Warum sind Fehlgeburten in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabuthema?
Anja Gutmann: Das Problem ist, dass die Gesellschaft eine Fehlgeburt als Unfall oder Krankheit ansieht und wenn sie vorbei ist, sollte man sich auch schnell davon erholen. Fakt ist aber, dass Mütter in den meisten Fällen schon ab dem Moment, wenn sie von der Schwangerschaft erfahren, eine Beziehung zum Embryo aufbauen. Und nach einer Fehlgeburt sind sie Eltern, die ein Kind verloren haben. Den Frauen wird das Recht genommen, um ihr Kind zu trauern – sie sollen möglichst schnell wieder funktionieren.

Zu welchen psychischen Folgen kann es durch eine Fehlgeburt kommen?
Ein Teil der Frauen kommt gut damit zurecht und reagiert gut darauf. Aber bei vielen anderen kommt es zu einer Traumatisierung. Das ist eine neurologische Störung, das Gehirn ist überfordert und kann nicht verarbeiten, was passiert ist. Es kommt zu einer Entkoppelung zwischen Verstand und Emotion: Der Verstand weiß, dass das Ereignis vorbei ist, aber das Gefühl weiß es nicht. Es kann zu Flashbacks kommen, die Erinnerungen und der Schmerz kommen immer wieder zurück. Wenn betroffene Frauen wieder schwanger werden, ist die Angst oft wieder sehr groß.

Psychologin Anja Gutmann
Psychologin Anja Gutmann © JUKEL

Mit welcher Therapie arbeiten Sie bei Betroffenen?
Entsteht infolge einer Fehlgeburt ein Trauma, arbeite ich mit neuropsychiatrischen Methoden. Eine davon ist Brainspotting, dabei wird das Gehirn durch optische Reize und Geräusche zur Verarbeitung angeregt. Während sich das Gehirn in diesem ,Verarbeitungsmodus‘ befindet, werden belastende Ereignisse gemeinsam noch einmal hergeholt, um sie nachträglich zu verarbeiten. Im Idealfall kommt es dadurch zu einer emotionalen Distanzierung. Das ist das Ziel der Traumatherapie: Wir können das Erlebte nicht löschen, aber Betroffene können sich daran erinnern, ohne dass Gefühle von Angst, Schuld, Trauer oder Ohnmacht sie belasten.

Wie schwierig ist die nächste Schwangerschaft für Frauen?
In vielen Fällen schwingt die Angst wohl mit. Hat eine Frau die Traumatherapie erfolgreich abgeschlossen, hat sie aber gute Voraussetzungen.