Einige Männer wollen es einfach nicht kapieren: Auch wenn eine Frau sich freizügig gibt, ist das noch längst kein Freibrief, diese Frau anzutatschen. Als Miley Cyrus beim Primavera-Festival in Barcelona am vergangenen Wochenende gemeinsam mit ihrem Ehemann Liam Hemsworth ein Bad in der Menge nahm, warf ein männlicher Fan die Arme um die 26-Jährige, roch an ihren Haaren und küsste sie sogar. Sicherheitskräfte mussten eingreifen, das Video dazu sorgte auch im Netz für gehörigen Wirbel, und Cyrus selbst twitterte erbost: „Sie kann tragen, was sie will. Sie kann Jungfrau sein. Sie kann mit fünf unterschiedlichen Leuten schlafen. Sie kann mit ihrem Ehemann zusammen sein. Sie kann mit ihrer Freundin zusammen sein. Sie kann nackt sein. Aber sie kann NICHT ungefragt angefasst werden.“

Die unerfreuliche Kuss-Attacke soll aber nicht davon ablenken, dass Miley Cyrus in Barcelona einen musikalischen Triumph feierte. Anfangs nur als müder Ersatz für die abgesprungene Cardi B belächelt, lieferte sie vor Zigtausenden begeisterten Fans einen fulminanten Auftritt ab. Dass genau an diesem Wochenende auch ihre neue EP „She Is Coming“ erschien, war gutes Timing. Gleich die Videoeinspielungen zu Konzertbeginn ließen erahnen, dass der einstige Disney-Star ihr Hannah-Montana-Image weiterhin mit einer Abrissbirne zum Einsturz bringt. Da inszenierte sich diese hochtalentierte Pop-Göre nicht nur lustvoll als Früchtchen, vielmehr trieb sie mit solchen allerlei saftige Spielchen. Und als sie dann die Bühne enterte, war klar, dass auch die zahme Country-Pop-Ära vorbei ist und die Fransenjacken und Westernstiefel künftig (hoffentlich) im Schrank bleiben werden.

Lack, Leder und viel nackte Haut

Miley Cyrus’ neues Image ist aus Lack, Leder und viel nackter Haus, die Musik geht (fast) schon als Rock durch, und wenn sie jetzt noch weniger oft Zunge und Becken kreisen lässt, bekommt sie auch für die theatralische Umsetzung der neuen Show ein „Sehr gut“. Es ist in diesem Punkt leider das ewig gleiche Lied mit Kinderstars, die vor der Weltöffentlichkeit pubertieren und später ebendort erwachsen werden: Sie zeigen uns allzu penetrant, dass sie jetzt auch groß sind und die Jugendschutzbestimmungen nicht mehr gelten für sie.

Dieses „dirty“ Posing ist aber natürlich auch Teil der Inszenierung, im Popgeschäft mehr als die halbe Miete. Und die neue Erzählung im Fall von Miley Cyrus lautet: Ich bin längst kein süßes Mädchen mehr, das das Glück auf Erden auf dem Rücken von Pferden sucht, ich bin auch nicht mehr Daddy’s Darling, das brave Lagerfeuerliedchen trällert – ich bin jetzt eine selbstbestimmte junge Frau, die es wild treibt, wenn ihr der Sinn danach steht. Natürlich ist so eine Story – vom Baby zum Biest – nicht neu in diesem Business, aber im Fall von Cyrus ist sie auch mit Inhalt gefüllt.

Das Spiel mit Klischees

Auf dem Cover von „She Is Coming“ ist sie mit einem „Never Mind the Bollocks“-Shirt abgebildet. Auch das ein Spiel mit Klischees. Natürlich liefert Cyrus keinen dreckigen Punk, aber ihr Pop ist kein Schmutz und die Attitüde stimmt. Die sechs Songs auf dem Minialbum – zwei weitere sollen folgen – sind ein schwieriger, aber gelungener Hybrid aus massentauglicher Melodienseligkeit und musikalischer Up-to-date-Coolness. Auch die Liste ihrer Gäste ist ein Abbild davon: Andrew Wyatt von Miike Snow, Swae Lee, RuPaul, Ghostface Killah, Mike WiLL Made-It und der alte Haudegen Mark Ronson sorgen dafür, dass der bislang recht hausbackene Miley-Pop mit Rap- und Trapelementen neu aufgeladen wird. Auf das cremige Pop-Fundament werden lässige, mitunter subtile Beats aufgesetzt. Und selbst der Ausflug ins Rap-Genre erweist sich nicht als Bauchfleck. Im Song „Cattitude“ etwa liefert sich Cyrus ein messerscharfes Duell mit RuPaul, Textanspielung auf Cardi B inklusive.

Stimmlich muss Miley Cyrus ohnehin nichts mehr beweisen, da ist sie sattelfester denn je. Und wohin die Reise geht, macht sie gleich im ersten Lied auf der EP klar. In „Mother’s Daughter“ heißt es: „Don’t Fuck with My Freedom/I Came Back to Get Me Some/I’m Nasty, I’m Evil.“ Das ist die Erzählung. Das ist selbstbewusster Pop auf der Höhe der Zeit, dargeboten von einer Entertainerin, die ihre Reifeprüfung längt abgelegt hat. Daran sollten auch alle grapschenden Männer denken, bevor sie Miley Cyrus zu nahe kommen.