Die Mitschüler lachen, als Christiane ihre Geschichte erzählt: „Und dann ist er abgestürzt aus dem elften Stock. Es war wirklich ein Wunder“, schildert sie ihr dramatisches Erlebnis in einer Liftkabine. Warum das die anderen Schüler amüsiert? Sie ahnen oder wissen wie die Zuseher: Elf Stockwerke freier Fall sind ein Klacks im Vergleich zu dem ultimativ tiefen Absturz, der Christiane noch bevorsteht.

Die Geschichte von Christiane F. ist eine Art narratives Nationalheiligtum der Berliner. Die wilde Jugenderfahrung der 1970er wurde zum Bestseller (1978), zum Theaterstück (1980) und zum Film von UlrichEdel, mit NatjaBrunckhorst in der Hauptrolle (1981).

40 Jahre später ist die Kommerzialisierung der Schicksalsgeschichte am modernen Plafond angekommen: Der Streamingdienst Prime Video baut „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ zur achtteiligen Miniserie aus und bewirbt sie publikumswirksam.

Auf die groteske Einstiegsszene mit David Bowie in einem Flugzeug folgt eine Exposition, die sich nicht lange mit Idyll aufhält. Man lernt sechs junge Menschen kennen, die notorisch klamm und sozial unterversorgt das Berlin der späten 70er inhalieren wollen. Bald reicht inhalieren nicht mehr: Die Sehnsucht der Stadt geht intravenös direkt ins Blut. Was zum Glück fehlt, wird mit herbeigeführter Realitätsabstinenz kompensiert.

Anders als das in der Ich-Perspektive verfasste Buch teilt sich die Aufmerksamkeit der Serie auf die Geschichten der sechs Freunde auf und führt ein Stück weit vom Schicksal der Christiane F. weg. Gespielt wird sie von Jana McKinnon („Wach“): Die in Wien und Australien aufgewachsene Schauspielerin gibt ihrer Figur Stärke, lässt sie glaubwürdig scheitern und träumen und wieder scheitern. Mit dem Grazer Gerhard Liebmann als gutmütigem Industrie-Vorarbeiter ist ein weiterer Österreicher in einer zentralen Rolle zu sehen.

Die Berliner Impfstraßen der 1980er führten über den Kinderstrich am Bahnhof Zoo. Das Heroin will bezahlt werden. Wobei es Kinderstrich nicht ganz trifft: Während Christiane F. mit 13 Jahren in die Höllen von Drogen und Prostitution abtauchte, ist Darstellerin Jana McKinnon bereits 22 und sieht wenig jünger aus. Schnell ist klar: Mit der Serie entfernt sich Philipp Kadelbach bewusst von der Filmvorlage, mischt die Geschichte musikalisch modern ab und gerät damit leider in das Fahrwasser der oberflächlichen Beliebigkeit.

„Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ war und ist das Schlüsselloch in eine dunkle Welt des Unmittelbaren. Die von OliverBerben produzierte Serie widersagt der Versuchung, die Befriedigung des Voyeurismus in den Vordergrund zu stellen. Die Spitzen des Wahnsinns werden ausgespart, fast scheint es, als würden die Figuren ihre schlimmsten Erlebnisse schamhaft verstecken: Vergewaltigt, gelitten und gestorben wird meist unscheinbar. Das Ausgesparte vollendet sich im Geist des Betrachters. Gefühlt hundertfach ist dafür der bildtaugliche Akt des Heroinkonsums zu sehen: der Löffel, das Feuer, die Spritze, das Eindringen durch die Haut, das Weggleiten. Das „H“ ist der Angelpunkt dieser Berliner Untergangsgeschichte.