Herr Brauer, am 4. Jänner werden Sie 90. Was bedeutet Ihnen diese Zahl?
ARIK BRAUER: Nix. Das ist nur eine Zahl. Ich war voriges Jahr genauso alt und werde, wenn ich noch ein Jahr lebe, noch genauso alt sein. Natürlich spürt man im Laufe der Zeit die Zeit. Aber ich bin, wenn ich nicht gerade einen Schnupfen habe wie jetzt, sehr gesund und kann alles machen.


An Ihrem Geburtstag feiert „Arik – Die wunderbar realistische Welt des phantastischen Herrn Brauer“ im Wiener Rabenhoftheater seine Premiere. Wie wird es Ihnen gehen, wenn Sie Ihr Leben vor sich auf der Bühne inszeniert vorbeiziehen sehen?
Meine Tochter Ruth wurde vom Theater eingeladen. Mich hat man ersucht, das Bühnenbild zu gestalten. Das habe ich gemacht. Ich denke, es wird ein originelles Bühnenbild sein. Ich weiß, dass meine Tochter Texte und Lieder von mir verwenden wird, und bin mir sicher, dass ihr Mann, Kyrre Kvam, der ein hervorragender Musiker ist, das richtig verwursten wird. Ich habe keine Ahnung, was genau passiert, und lasse mich gerne überraschen. Aber sie ist ein kreativer Mensch. Ich bin mir sicher, dass es interessant wird.


Lotte Tobisch, Gustav Peichl oder Hugo Portisch: Sie alle sind 90. Ist Ihre Generation besonders robust?
Nein, das würde ich nicht sagen. Was soll das heißen – die Generation? Die meisten sind ja schon weggestorben und bei den wenigen, die den Zweiten Weltkrieg noch bewusst erlebt haben, wird aufs Datum geschaut. Ich bin halt jetzt einer von denen. Ich bin jetzt der Zeitzeuge vom Dienst.


Als solcher waren Sie in diesem Gedenkjahr ziemlich beschäftigt.
Ich bin in diesem Jahr einige Male eingeladen worden, mich zu äußern. Jeder Mensch hört sich gerne reden. Ich mich auch. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass ich verbraten werde, wie man so sagt. Aber das ist mir nun auch schon wurscht.


Rechte Rülpser von österreichischen Politikern oder antisemitische Vorfälle in Europa: Ist Ihre Rolle als Zeitzeuge dringender denn je, damit die Gräueltaten des Nazi-Regimes nicht in Vergessenheit geraten?
Sie ist auf jeden Fall wichtig. Aber man muss aufpassen, dass es nicht kontraproduktiv wird. Kommt es zu oft vor und nicht auf qualitativ hohem oder wissenschaftlichem Niveau, kann es passieren, dass die Leute sagen: „Schon wieder ein alter Jud, der seine Kindheit beweint.“ Das war ein derartiger Einschnitt in die Geschichte der Menschheit, dass es gar nicht in Vergessenheit geraten kann. Und was den Antisemitismus betrifft: Hier gilt für Frankreich etwas anderes als für Österreich oder Deutschland. Dort gibt es Juden und entsprechende Probleme mit der Einwanderung von Arabern. In Österreich leben nur wenige Tausend Juden. Hier erleben wir einen Philosemitismus, der ein bisschen eine Hetz ist und nicht viel kostet. Für diejenigen, die es betrifft, kann es von Bedeutung sein. Aber politisch hat das keine Relevanz mehr. Obwohl wir in Wien eine Kultusgemeinde mit vielen gescheiten Leuten haben, die sehr aktiv sind.


Engagieren Sie sich in der jüdischen Gemeinde?
Nein. Ich bin nicht fromm. Ich war nicht einen einzigen Tag in meinem Leben gläubig. Mit der Bibel habe ich mich sehr intensiv beschäftigt, auch ein Buch dazu herausgebracht. Die Bibel ist ja ein Menschheitsdokument ersten Ranges. Mein Judentum besteht darin, dass ich einen Teil meines Lebens in Israel verbringe, wo auch eine Tochter und vier Enkelkinder leben.


Wie erleben Sie die politische Situation in Israel? Wie geht es Ihnen damit?
Schlecht. Ein 70-jähriger Israeli heute hat noch nicht einen einzigen Tag Frieden in seinem ganzen Leben erlebt – nicht einen einzigen. Das verändert das Denken der Menschen auf Dauer auch. Das ist sehr schmerzvoll. Vor allem, weil niemand einen Ausweg sieht – auf keiner Seite. Auf der arabischen Seite sehen sie einen Ausweg darin, dass der Staat verschwinden muss. Juden als Minderheit – damit haben sie kein Problem. Sie haben nur ein Problem mit der westlichen Zivilisation und westlich ist Israel natürlich. Ein Anti-Judaismus importiert sich mit der Einwanderung aus diesen Ländern nach Europa. Das ist nicht zu übersehen. Das braucht man gar nicht zu verallgemeinern – diese Menschen sind genauso geprägt von ihrer Kindheit wie ich von meiner.


Apropos Kindheit: Sie sind in den 30ern in Wien-Ottakring aufgewachsen. Erkennen Sie Parallelen zwischen der Vorkriegszeit und heute?
Nein. Das sagen nur Leute, die die Situation von damals nur aus den Büchern kennen. Das kann man nicht vergleichen. Damals haben wir uns gefragt, wie kalt es morgen werden wird, weil wir barfuß zur Schule gehen. Das kann man sich nicht vorstellen. Die Arbeitslosigkeit war entsetzlich. Die Männer sind in den Parks gesessen und haben nicht gewusst, wie sie funktionieren sollen, und die Kinder waren hungrig. Es ist nichts und niemand mit der Nazi-Maschinerie vergleichbar.


Krieg, Kriegsende, Verdrängung, Aufschwung, Digitalisierung und noch vieles mehr: Es ist unvorstellbar, welche Umbrüche Sie in Ihrem Leben erlebt haben.
Unvorstellbar ist es nicht. Wenn man lange genug lebt, erlebt man halt viel.


Vor diesem enormen Erfahrungshintergrund: Wie würden Sie das Jetzt beschreiben?
Natürlich freue ich mich nicht über diese neue Regierung. Ich habe sie nicht gewählt. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass das eine Katastrophe ist. In ganz Europa gibt es diese Tendenzen. Wir müssen wachsam sein, dass diese nicht an Europa rütteln. Europa muss sich weiterentwickeln, es darf nicht stehen bleiben. Ich bin überzeugt davon, wenn Europa nicht völlig uninteressant auf dieser Erdkugel werden will, dann muss es ein Staat werden – mit einer Regierung und einem Militär. Sonst sehe ich die Zeit positiv. Ich möchte nicht in einer anderen Zeit leben. Und ich möchte auch nicht an einem anderen Platz leben als in Europa, in Wien. Wir haben lange in Paris gelebt. Paris ist grandios. Aber: Um dort gut zu leben, muss man entweder sehr jung oder sehr reich sein. Und nicht nur ein bisschen reich.


Die Farbe an Ihren Fingern beweist, dass Sie weiterhin künstlerisch aktiv sind.
Ja, wahnsinnig (lacht) – das ist die richtige Bezeichnung. Ich male mein ganzes Leben vor mich hin, ich kann gar nicht anders. Ich stehe in der Früh auf und fange an und höre erst dann auf, wenn ich gestört werde. Wie jetzt zum Beispiel.


Verzeihung dafür!
Drei große Ausstellungen liegen 2019 vor mir: eine im Jüdischen Museum in Wien, eine im Salzburg Museum und eine in der Kunsthalle Erfurt. Dafür brauche ich 120 Exponate, die ich habe. In meinem Leben habe ich ja genug gemalt. Zu meinen Bildern schreibe ich sehr gerne Texte. Ich bin der Meinung, dass Sprache dazugehört.


Eine Freundin, die in der bayrischen Provinz aufgewachsen ist und sich mit Ihren Liedern im Radio weg- und freigeträumt hat, hat mir eine Frage für Sie mit auf den Weg gegeben: Hat Sie der Freiheitsgedanke angetrieben?
Ich glaube, fast jeden jungen Menschen treibt der Gedanke an Freiheit an. Ich habe im absoluten Gefängnis des Nazi-Faschismus gelebt. Das Ende dieses Systems war in meinem Leben, aber auch im Leben von Europa ein Einschnitt ersten Ranges, der das Gefühl der Freiheit ins Zentrum des Bedürfnisses gestellt hat. Das wirkt zweifelsohne bis jetzt nach.

Arik Brauer und seine Frau Naomi Dahabani
Arik Brauer und seine Frau Naomi Dahabani © APA/HANS PUNZ


Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?
Ich wünsche mir, dass ich nicht krank werde, und natürlich plagt einen die Angst, dass man vertrottelt. Mein Leben war ein Batzen Theater, jetzt sterbe ich, das ist normal. Ich kann mir keine Alternative dazu vorstellen.


Worauf in Ihrem Leben sind Sie besonders stolz?
Auf meine glückliche Ehe. Ich kenne niemanden außer mir, der 62 Jahre krisenfrei und glücklich verheiratet ist.


Was ist Ihr Geheimnis?
Die Voraussetzung dafür ist, dass offensichtlich meine Frau und ich hochanständige Menschen sind. Wir akzeptieren die Schwächen und Eigenheiten des anderen nicht nur, sondern wir lieben sie.