Der Kunstgriff ist umwerfend. Wenn Lucia di Lammermoor im dritten Akt nach einer traumatischen Hochzeitsnacht in den Wahnsinn gleitet, greift Komponist Gaetano Donizetti zu einem genialen Trick. Er lässt die Melodiefragmente und die Koloraturen, die Lucias Wahnsinn darstellen, von einer Glasharmonika begleiten. Deren unwirklicher Klang ist in seiner Zerbrechlichkeit eine Spiegelung der Seele Lucias, die selbst am Zerspringen ist, ein unheimliches Echo ihrer Stimme. In der Kadenz am Ende der Szene artet das in ein Duett aus, das allerdings nicht von Donizetti stammt, sondern erst später Tradition wurde. So wie der Ersatz der Glasharmonika durch eine Flöte. Erst in den letzten Jahren verwendet man das original vorgesehene Instrument wieder. Auch in der neuen Grazer Produktion greift man auf die singenden Gläser zurück. Hier eine Erklärung des Instruments und seines Einsatzes in der Oper: Die Wahnsinnsszene aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“ ist das berühmteste Beispiel für den Irrsinn in der Oper, wobei der 1848 in einer Psychiatrie verstorbene Komponist die „Scena della pazzia“ zu seinem Markenzeichen machte. Etwa ein Dutzend ähnlicher Szenen hat Donizetti verfasst.

Sein Belcanto-Zeitgenosse Vincenzo Bellini ging noch einen Schritt weiter und verwandelte 1835 in „I puritani“ den Wahnsinn einer verlassenen Braut zum Dreh- und Angelpunkt einer ganzen Oper. Die von Zerrissenheit geprägte Zeit der Romantik mit ihrem Hang zum Dunklen und Bizarren sowie das aufkeimende wissenschaftliche Interesse am Individuum, an der Seele und deren Erkrankungen dürfte solchen musikalischen Erkundungen neuen Schub gegeben haben.

Dabei ist die Wahnsinnsszene natürlich fast so alt wie die Oper selbst. Ein frühes Beispiel ist „Didone“ von Francesco Cavalli, übrigens eines der radikalsten Werke der Operngeschichte. Wahnsinn ist nur eine der Extremsituationen, die Cavalli in dem 1641 uraufgeführten Werk vor Augen führt. Dabei ist der Irrsinn in „Didone“ noch vom Kriegsgrauen befreiende Komik. Kein Einzelfall: In der Barockoper sind Szenen mit Wahnsinnigen hauptsächlich humoristisch gestaltet. Erst im 18. Jahrhundert wird der Wahnsinn auf der Opernbühne zur vorwiegend dramatisch-traumatischen Angelegenheit, endet die Belachbarkeit von abnormem Verhalten. Von den Schelmen, Narren und den bizarr-barocken „Rasenden Rolands“ ist es ein weiter Sprung zur Elettra aus Mozarts „Idomeneo“. Mozart schreibt ein erschütterndes Stück, in dem das Orchester die Protagonistin wie ein Heer von Furien förmlich zerfetzt.

Vermutlich gibt es mehrere Tausend Opern, in denen Wahnsinn eine Rolle spielt, Generalisierungen sind deshalb unmöglich zu treffen. Dass Komponisten sich von solchen Extremsituationen angespornt gefühlt haben, liegt auf der Hand. So wie die Barockmeister Irrsinn als gestalterischen Freibrief verstanden, nahmen ihn die Komponisten im Zeitalter des Belcanto als Gelegenheit, den Sängerinnen virtuose Passagen zu schreiben. Die von Liebesnöten in den Wahnsinn getriebene Frau ist typisch für diese Zeit, wobei der Musikphilosoph Ulrich Schreiber darin die „gesellschaftliche Wirklichkeit der Frau in der romantischen Epoche“ gespiegelt sieht: Wahnsinn als ein Weg aus der repressiven Normalität, die den Frauen die Bürgerrechte und Selbstbestimmung verweigert.

Männer plagen andere Probleme. Es sind eher Machthaber, die dem Wahn anheimfallen: Das Ende des Zaren in „Boris Godunow“ wird von Modest Mussorgski 1874 mit einem Expressionismus ausgemalt, der weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht. Dort schließlich explodiert das Interesse an der gerade neu entdeckten Psyche förmlich. Die überreizten Klänge, mit denen geistige Devianz in Szene gesetzt wird, schillern in tausend Farben bis hin zum Gestammel von Aribert Reimanns König Lear (1978). Das ist dann eher aufwühlend als schön.


„Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti. Oper Graz.
Mit Ana Durlovski, Pavel Petrov und Rodion Pogossov. Dirigent:
Andrea Sanguineti, Regie: Verena Stoiber. Premiere: 23. März, 19.30 Uhr. Karten, Infos: 0316/8000.