Die Bauhaus-Epoche dauerte nur 14 Jahre und wirkt trotzdem bis heute nach. Warum?
Jana Revedin: Walter Gropius ging es bei der Gründung des Bauhauses nicht darum, weiterhin der damals herrschenden „eitlen Salon-Baukunst“ zu frönen, also reich dekorierte, gefällige Objekte zu liefern. Im Gegenteil, er wollte die gesamte Architekturlehre reformieren und auf interdisziplinäre Füße stellen. Am Bauhaus lehrte kein einziger Architekt! Die Studenten wurden von Künstlern, Theaterleuten, Grafikern, Fotografen, exzellenten Handwerkern erzogen. Gropius ging es um ein Lernen im Austausch, einen gesamtheitlichen Prozess, und er band nicht nur die Kunst und das Gewerbe in die Architekturlehre ein, sondern auch die aufblühende Industrie. Er rief dazu auf, Gestalten vom Handwerk aus neu zu erfinden, „denn es gibt keine Kunst von Beruf.“ Das Schaffen des Architekten sah er als „Dienst an der Gesellschaft“, als sozialen, ja politischen Auftrag: menschenwürdigen Lebensraum für alle, den wollte das Bauhaus schaffen. Ist diese Sicht, diese Berufsethik nicht aktueller und notwendiger denn je? Ich zumindest leite meine gesamte Nachhaltigkeitslehre von ihr ab.

Es gab damals schon ein Bestreben nach nachhaltiger Architektur?
Man entwarf am Bauhaus die „ökologische Stadt“, in „klimagerechten Bauten“: Sonneneinstrahlung und Windkanäle wurden untersucht, Regenwassernutzung, mechanische Beschattung, klimagerechte Materialien erprobt, öffentliches Grün so geplant, dass es aktiv und produktiv genutzt werden konnte. Schluss mit „dekorativen“ Flaniermeilen für wenige Privilegierte! Denn die Stadt sollte ihre „soziale Dimension“ zurückgewinnen: man probierte partizipative Gestaltungsmodelle für einen leistbaren Wohnbau – teils im Selbstbau - aus, bei denen die Lebensrhythmen und der kulturelle Kontext der Bewohner berücksichtigt wurden. Der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner rief von 1930-1932 den Kreis der „Reformarchitekten“ um Walter Gropius zu Bauausstellungen auf, die die Industrie von einem „ökologischen“ Bauen überzeugen konnten. Leider umsonst. Hitlers Interessen waren andere. Alle Bauhaus-nahen Architekten mussten, aus öffentlichen Funktionen entfernt und beruflich ausgegrenzt, ab 1933 das Land verlassen.

Und heute?
Versucht eine neue Generation von Rebellenarchitekten an diese „ökologische Stadt“ anzuknüpfen. Allein hat die Menschheit in den letzten hundert Jahren den Klimawandel weiterbetrieben, als ginge es um einen Wettbewerb. Und die Weltbevölkerung ist, bei gleichgebliebener „Wohnfläche“ unseres Planeten, um das Achtfache angestiegen.

Was fasziniert Sie als Architektin am "Bauhaus"?
„Eine Größe hat unsere Zeit: Besseres wollen.“ Diesen Satz schrieb Bruno Taut, der Berliner Siedlungsbauer, der die Bauhauslehre maßgeblich beeinflusste, gegen Ende des ersten Weltkriegs. Ein einziger Satz sagt alles über diese schwierige Zeit aus, in denen sich Europa, ganz wie heute, durch eine kaum dagewesene Völkerwanderung neu mischte und sich die Gesellschaft nach der Auflösung veralteter Klassensysteme neu definieren musste. Für manchen waren es die „letzten Tage der Menschheit“, für andere die Chance auf eine bessere Welt. „Architekten müssen wieder zu Entdeckern werden“, postulierte Gropius und bestand am Bauhaus darauf, dass Raumgefüge, Strukturen, Materialien, Möbel, Designstücke gemäß ihrer Nutzung und „laut ihrer ureigenen Gesetzmäßigkeit“, zudem „für jeden leistbar“ neugedacht würden. Ein Anspruch, den ich heute an meine Studenten stelle.

Wie kamen Sie auf die Idee zu einer Biografie von Ise Frank?
Auf Ise Frank stieß ich, wie es so oft in der Forschung geschieht und was ihren Zauber ausmacht, aus Zufall. Mit meiner Meisterklasse las ich die Texte von Bruno Taut, insbesondere seine Veröffentlichung „Die neue Wohnung: Die Frau als Schöpferin“ von 1924. Wir entdeckten, dass die Erste, die seine damals revolutionären Thesen des „Gestaltens nach ergonomischen Grundsätzen“, also nach den Bewegungen des menschlichen Körpers, umsetzte, Ise Frank war, die Frau von Walter Gropius. Das Meisterhaus des Ehepaars Gropius in Dessau wurde von ihr nach dieser aus Amerika importierten Lehre eingerichtet. Bruno Taut stand dazu Pate.

Warum haben Sie sie zur zentralen Figur der Bauhaus-Zeit gemacht?
Sie machte mich neugierig. Wer war die Frau, fragte ich mich, die es wagte, das erste „Haus der emanzipierten Frau“ umzusetzen? Zwei Jahre vor der Entwicklung von Margarete Schütte-Lihotzkys „Frankfurter Küche“? Wie kam eine höhere Tochter, die mit Hausbediensteten und Bie- dermeiermobiliar aufgewachsen war, dazu, ausklappbare Schreibtische, Teleskoplampen, elektrische Teekocher und vollautomatische Spülmaschinen auszuprobieren? Was musste es bedeuten, dass sie diese bahnbrechende Rationalisierung der Hausarbeit für gut, ja für sehr gut befand, da sie die durch „kluges Bewegen“ gewonnene Zeit in ihr eigenes berufliches Tun, ins Schreiben investieren konnte?

Zumal sie keine Architektin war?
Keinesfalls, und genau das interessierte mich! In Ise Frank hatte ich eine Zeitzeugin gefunden, die eine Fachfremde – nämlich Journalistin und Rezensentin - war und so einen durch und durch „kritischen Blick“ auf die Bauhaus-Idee warf, bevor sie sie, über die Beziehung zu Gropius und das Sich-Einschreiben in die Bauhaus-„Familie“, zu ihrem „zweiten Ich“ machte. Aus ihrer Sicht würde sich mir die Bauhaus-Zeitgeschichte, die ich seit Jahrzehnten architekturtheoretisch betrachte, in seiner sozialen und politischen Problematik neu erschließen.

Waren Sie beim Recherchieren zunehmend überrascht?
Überrascht hat mich Ises Weitsichtigkeit. Wie ein Seismograph nimmt sie die Schwankung zum Nationalismus, zur zunehmenden Ausgrenzung von Minderheiten, zur populistischen Volksverdummung wahr. Diesen bedrohlichen Zeit-Geist des Bauhauses, der oft übersehen wird, da man sich nur den „schönen Objekten“ widmet, habe ich versucht, darzustellen. Voller Bewunderung war ich für Ises Klarsicht, dass das Bauhaus Deutschland verlassen muss. „The big picture: das Bauhaus geht nach Amerika“, rät ihr ihre amerikanische Fotografenfreundin Ende 1927, als die „Aktien“ in Dessau schon schlecht stehen. Und sie setzt diese Vision um! Sie dokumentiert das Bauhaus in Projektbeschreibungen, Artikeln und sogar in einem Film, um es über Werk-Ausstellungen in den „freien Städten“, Paris, Istanbul, Buenos Aires, New York bekannt zu machen. Mit Erfolg, vielen Bauhaus-Kollegen, die ja oft Juden waren, gelingt die Flucht nach Amerika, in die Türkei oder später nach Israel.

Hat sie Sie auch einmal enttäuscht?
Enttäuschen kann einen Ise Frank nur in ganz menschlicher Sicht, in einem kurzen Moment ihres Lebens, wo sie Dessau und das dortige Umfeld verlassen muss und nach Berlin zurückkehrt. Doch das erfahren wir zum Glück erst auf der allerletzten Seite des Buchs.

Wie haben Sie recherchiert? Gibt es Tagebücher, Briefe?
Es gibt ein Bauhaus-Tagebuch, das Ise beinahe täglich führte, es ist aber ein „Firmentagebuch“ und somit für die Hintergründe der vielschichtigen Beziehungen, die sich am Bauhaus knüpfen, nicht wirklich interessant. Viel aufschlussreicher waren für mich Ises Schriften aus ihrer „Artikelfabrik“, die sie für Gropius und die Bauhaus-Projekte schreibt, Gropius‘ Briefe, dann Fotografien und Berichte von Zeitzeugen, die ich im weiteren Umfeld der Bauhaus-Protagonisten aufgetan habe, in Frankreich, in der Türkei, in Nord- und Südamerika. Ich erkannte, wie vorausschauend Ise Kontakte knüpfte. Wer konnte ahnen, dass die internationalen Besucher ihres Modell-Meisterhauses in Dessau nur fünf, sechs Jahre später zu den „Rettern“ der Bauhaus-Idee mutieren sollten? Ich erkannte ebenso, dass Ise eine Meisterin des „guten Vollendens“ war. Gropius war ein geborener Eroberer, er begann ein Projekt, eine Studie, ein Experiment, verlor aber beim ersten sich abzeichnenden Problem die Lust daran. Ise setzte auf Dauer. Sie fragte nach, präzisierte jeden Inhalt, beschrieb jeden Prozess. Und das galt nicht nur für Ideen und Werke, sondern auch für Beziehungen. In der „wilden“ Moral der 1920er ertrug sie die Eskapaden ihres Mannes, doch sie erhielt ihre Beziehung, sie arbeitete an ihr, sie gab nicht auf.

Wie lange haben Sie an dem Roman gearbeitet?
An der Bauhaus-Zeit wie gesagt ein Leben lang, an Ise Frank intensiv die letzten vier Jahre.

Warum haben Sie die Form des biografischen Romans gewählt?
Ein Fachbuch hätte mich in einen Rahmen gezwängt, den die Charaktere in und um das Bauhaus nicht zuließen. Die Menschen, die Ise Frank wichtig sind, ihre Freundinnen Gussie Adenauer und Irene Hecht, Gropius und seine Mutter Manon, Jean-Michel Frank und Bruno Taut, László Moholy-Nagy und Hugo Junkers, Marcel Breuer und Herbert Bayer waren ein feineres Zeichnen, ein bedingungsloseres Sich-Einlassen wert, das nur dieses Genre zulässt. Die historische Ebene wird durch eine literarische Ebene ergänzt, aus dem Berichten wird Erzählen.

Hat sich durch das Schreiben Ihre Wahrnehmung des „Bauhaus-Moments“ verändert?
Die deutsche Reformmoderne „bewohne“ ich als Forschungsgebiet seit meinem Diplom, also seit beinahe dreißig Jahren. Die Arbeit am Leben und Wirken der Ise Frank und den ihr nahestehenden Akteuren des Bauhauses hat mich aber eines gelehrt: wir leben heute in Europa großteils in Freiheit, in anhaltender Sicherheit, in wachsendem Wohlstand – doch wo ist das Wagnis? Wo wagen wir Visionen, Gefühle? Wofür gäben wir alles auf? Ise wird, als das Bauhaus eben erbaut ist und alles vermeintlich sicher und erfolgreich und dauerhaft scheint, ihrer Freundin Irene den folgenden Gedanken widmen: „Ise würde alles tun, um diese Nähe, dieses rückhaltlose Vertrauen zu schützen. Sie könnte alles aufgeben dafür. Wirklich alles. Ihre Häuser, ihre Kleider, ihre Bücher. Nur das Schreiben nicht.“