Dreizehn Einwohner zählte das Dörfchen Oskoruša im Vorjahr. Hundert waren es in der Blütezeit, bald aber wird der nur schwer erreichbare Ort in den bosnischen Bergen ausgestorben sein. Jene, die blieben, sind alt, dennoch denkt keiner an das Weggehen. Aber niemandem kommt es in den Sinn, dort hinzuziehen. Und doch hat Oskoruša einen Fixplatz bekommen; in der Gegenwartsliteratur, in den Herzen der Leserschaft.

Virtuoses Spiel der Erinnerungen


Denn dieses Oskoruša verwandelte sich in ein Zentrum erzählerischer Magie, Fabulierkunst, Tragik; als Schauplatz eines virtuosen Spieles der Erinnerungen. Verantwortlich dafür zeichnet Saša Stanišić, einer der wichtigsten mitteleuropäischen Erzähler der Gegenwart. Er erblickte das Licht der Welt zwar im nahe gelegenen Višegrad, das im Jugoslawienkrieg viele Massaker über sich ergehen lassen musste. Aber seine familiären Wurzeln hat er in den Bergen, in Oskoruša.


Dorthin reist der Autor mehrmals, meist mit seiner Großmutter; stets mit einem Bündel wunderbarer und wundersamer Geschichten und zum Teil vergessenen Kindheitserlebnissen im Gepäck. „Herkunft“ betitelte  Stanišić, durchaus und in mehrfacher Hinsicht passend, sein neues Werk, das nur ein Manko hat – es könnte weitaus mehr als nur rund 360 Seiten umfassen. Mit enormer erzählerischer Magie und Sogkraft und einem perfekt ausgewogenen Verhältnis zwischen feinsinniger Ironie, Tragik und Fabulierfreude verhilft er dem Genre des Heimatromans zu neuer, auch brisanter Geltung.


Denn im Mittelpunkt steht stets die Frage, warum der zufällige Geburtsort, die Herkunft also, in Zeiten der Asylsuche, der Missachtungen, der Auswanderungen, der Abschiebungen, zu einem oft lebenslänglichen Stigma werden konnte.
Stanišić floh gemeinsam mit seinen Eltern 1992 vor dem Krieg, er fand in Deutschland seine Wahlheimat, seine Eltern wurden nach einigen Jahren wieder abgeschoben.

Pendler zwischen zwei Welten


Trotz dieser Fakten versteht es der Pendler zwischen zwei Welten, sofort Geborgenheit, Vertrautheit zu schaffen. Obwohl es sich um keinerlei auch nur halbwegs halbheile Zeiten handelt, die Stanišić schildert. Seine Reise führt auch vorbei an brennenden Asylheimen, an Anschlägen der Rechten in Deutschland, an rigorosen Zerschlagungen von Familien.
Zum Wesen wahrer Literatur gehört es, dass diese sich an der Wirklichkeit reibt. Durch Reibung entstehen Funken, in „Herkunft“ wird daraus ein Funkenregen, eine Leuchtspur, versehen mit einem genialen poetischen Epilog. Man greife danach, um zu begreifen.