Drei größere und fünf kleinere Kartons, zu denen sich später auch noch eine Blechdose gesellt, sollen mithelfen, um zu bewahren, was das Gedächtnis nicht immer speichern kann. Völlig unsortiert befinden sich in den Schachteln Kindheitsfotos, Bilder von der Hochzeit der Eltern, Schnappschüsse von einstigen Freundinnen und Freunden. Die Vergangenheit, auf Papier gebannt, oft noch in Schwarz-Weiß-Fotografien, erwacht in Barbara Frischmuths neuem Roman „Verschüttete Milch“ erneut zum Leben.

Scheinbar nach Zufallsprinzip holt sie Bilder hervor, Puzzlesteinen gleich, die sich immer mehr zusammenfügen zu einer Kindheitsgeschichte in einer alles andere als unbeschwerten Zeit, reich an prägenden Ereignissen und Erlebnissen. Offenbar rang die Autorin lange mit sich selbst, ehe sie sich entschloss, diese Geschichte zu verfassen. Faktum ist, dass sich mit diesem feinsinnigen und eindringlichen Blick zurück ohne Zorn, auf höchster sprachlicher Stufe stehend, ein Kreis schließt, der 1968 mit Barbara Frischmuths erstem internationalen Erfolg, der „Klosterschule“, begann.

Dunkelkammer der Erinnerung

Nicht als Autobiografie sollte dieses Zeitpanorama erachtet werden, wenngleich Querbezüge unverkennbar sind. Aber es gehört zum Grundwesen der Literatur, Selbsterlebtes, Selbsterlittenes in eine unverwechselbare Form zu gießen. Eine rare Gabe, über die Barbara Frischmuth in enormem Maß verfügt. Die Protagonistin in ihrem Roman heißt Juliane, anfangs nur die „Kleine“ genannt, geboren wurde sie 1941 in einem „Dorf im Gebirge“, das vom Salzabbau und vom Tourismus lebte. Ihr Vater fiel 1943 im Krieg, ihn kennt Julia nur durch die Fotos. Das lange im Familienbesitz befindliche Hotel, wo reihenweise Nazi-Bonzen abstiegen, musste verkauft werden, sie lebten fast Haus an Haus mit Widerstandskämpfern. Nach 1945 soll über all das der Lodenmantel des Schweigens gebreitet werden.

Aus der Dunkelkammer der Erinnerungen holt Barbara Frischmuth eine Vielzahl von Episoden hervor, melancholisch mitunter und versehen mit der kindlichen Naivität ihrer Erzählfigur, aber auch reich an Sarkasmen. So werden Kindesjahre lebendig, an einem Ort, „an dem Heil und Unheil Tisch an Tisch zur Sommerfrische saßen (und wohl noch immer sitzen)“. Hier wandelt keine Alice durch ein Wunderland (ein Werk, das Barbara Frischmuth sehr prägte), hier versucht eine Juliane in einem wunden Land, das sich angeblich im großen Umbruch befand, halbwegs Tritt zu fassen. Man folgt ihr, fasziniert, staunend, gebannt, Schritt für Schritt.

Lesetipp: Barbara Frischmuth. Verschüttete Milch. Aufbau-Verlag, 286 Seiten, 22 Euro.