Nicht innerhalb der Normen zu arbeiten, das kann in vielen verschiedenen Formen daherkommen. Melanie Liebheits und Gereon Wetzels "She Chef" ist so ein Fall. Ihr Dokumentarfilm, der vor Kurzem seine Österreich-Premiere beim Crossing Europe 2023 hatte, handelt von der Köchin Agnes Karrasch, Mitte 20, die als frisch gekürte Junior-Kochweltmeisterin 2018 auf Wanderschaft geht, um in den besten Restaurants in Europa zu lernen. Was Liebheit und Wetzel an ihrer Protagonistin reizte, ist ihre isolierte Stellung innerhalb der Szene. Karrasch ist eine der wenigen Frauen, die versuchen, an die Spitze zu gelangen. Es ist ein Arbeitsumfeld, das von Männern dominiert wird. Die Wanderjahre brechen somit mit der Tradition, ein junger männlicher "Hot Shot" von der Kochschule mit wenig Lebenserfahrung zu sein.

Die meisten der Szenarien spielen sich in den drei Restaurants ab, in denen Karrasch Praktika absolviert. Das schicke "Vendôme" in Bergisch-Gladbach, das experimentelle "Disfrutar" in Barcelona und das abgelegene "Koks" auf den Färöerinseln. Aber es ist nicht plakativer Foodporn, der Liebheit und Wetzel interessiert. Es geht ihnen auch nicht darum, Konflikte in der Küche zu zeigen. Sie konzentrieren sich darauf, was es für Karrasch bedeutet, ein Koch zu sein und wie sie die berühmte gläserne Decke durchbricht.

"Man wird mich aus der Küche tragen müssen", erklärt sie Dennis Melzer, dem Souschef des "Vendôme". Es wäre leicht, Karrasch als jemanden abzustempeln, der nur für den Job lebt. Doch "She Chef" umgeht das Klischee eines männlichen Narrativs, in dem Frauen als Entweder-Oder dargestellt werden. Karrasch spricht offen ihren Wunsch aus, alles zu haben. Den Partner, die Kinder, den Platz, an den sie gehört. Aber, und das ist ein wiederkehrendes Thema, es ist nicht so einfach für Frauen. Der Sexismus sowie die extremen Arbeitszeiten machen es schwer.

Die Tatsache, dass Karrasch einen Gutteil ihrer Wanderschaft in der Covid-19-Krise verbracht hat, hinterlässt einen bleibenden Eindruck im Film, nimmt aber nicht die gesamte Erzählung in Beschlag. Im Mittelpunkt stehen immer der Alltag im "Vendôme", ihre aufgrund von Sprachschwierigkeiten stillen Monate in "Disfrutar" und ihr Aufblühen in der rauen Wildnis rund ums "Koks". Hier wendet sich der Blick der Kamera von der Küche erstmals auf die atemberaubende Schönheit und Wildnis der Färöer-Inseln, die Ausflüge der Mitarbeiter und die zwischen ihnen entstehende Bindung.

Karrasch scheint ihre kleine Utopie gefunden zu haben. Es ist ein Best-Case-Szenario dafür, wie Fähigkeiten und Ehrgeiz auf Hierarchien und Traditionen treffen und wie letztere Schritt für Schritt überwunden werden können. Ein Gusto-Stückerl der Sonderklasse.