Sie sind 58 Jahre zusammen, "zwei alte Liebesleute". Sie, die Erzählerin, ist 83 Jahre alt; er, ihr Ehemann, 96. Sie nennt ihn Derden, das steht für "der, den ich liebe". In der Erzählerin ist unschwer Helga Schubert, Schriftstellerin und Bachmannpreis-Trägerin 2020, zu erkennen, ihr Mann heißt eigentlich Johannes Helm, Maler und Psychologieprofessor. Früher. Denn jetzt ist Derden dement, ein Pflegefall, ein Leben zwischen Rollstuhl, Blasenkatheter und Windeln. Ein Leben aber auch mit Sahnejoghurt und singenden Amseln. "So darf ein Leben doch ausatmen", schreibt Helga Schubert.

"Der heutige Tag" heißt dieses Buch, Untertitel "Ein Stundenbuch der Liebe". Autobiografische Beschreibungen von Krankheit, Tod und Trauer sind literarische Mode geworden zuletzt, doch dieser rührende, berührende, aber in keinem Wort rührselige Text hebt sich radikal und würdevoll von allen Befindlichkeitsfloskeln ab. Es ist, was und wie es ist. Das könnte Schuberts Credo sein. Voll Liebe und in allen Details beschreibt sie den Alltag, klammert nichts aus. Weder das Schöne noch das Leid; weder das Festhalten noch das Verblassen. "Auch jetzt, als alte Frau, dachte ich plötzlich, habe ich ja noch richtige Lebensaufgaben zu lösen: Es geht nämlich um das Loslassen, das Annehmen, es geht um das Friedenschließen, das Einverstandensein, um das nicht dauernd den anderen, sich und das Leben Ändernwollen."

Es wird gelacht und geweint

In zärtlich-kritischen Erinnerungsschleifen lässt Schubert die Vergangenheit Revue passieren, die Zeit in der DDR, den Mauerfall, das Scheitern der ersten Ehen in beiden Fällen, ihr Bleiben im Osten ihm zuliebe. Doch der Hauptstrang des Buches ist die Gegenwart; jene Zeit, die dem Mann, Derden, immer mehr verrinnt, verrutscht, verblasst. Momente des Erkennens wechseln mit Momenten der Verwirrung.

Derden erkennt seine Frau nicht mehr. "Wird die Fantasie ausreichen, um wenigstens in der Erinnerung das Schöne zu wiederholen?"
Angesichts seiner Auslöschung sprechen sie über den letzten Ruheort, sie bringt ihn zu verschiedenen Friedhöfen. Es wird gelacht, es wird geweint. Die Pflegerin setzt den Blasenkatheter, die Frau rührt das Joghurt an, draußen singen die Amseln. Es ist, was und wie es ist. Es ist keine Todesfuge, es ist eine Ode an das Leben – inklusive Liebe und Leid.

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Buchtipp: Helga Schubert. Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe. dtv, 265 Seiten, 24,70 Euro.