Morgen Vormittag therapiert das Neujahrskonzert wieder die Silvesterbrummschädel und schupft ein Millionenpublikum mit wienerischem Schwung und Charme ins Neue Jahr hinein. Das Neujahrskonzert ist aber mehr als nur lieb gewordenes Ritual und musikalischer Balsam. Es ist – trotz aller fragwürdigen Klischees von der guten, alten Zeit, die es mittransportiert – ein Beleg dafür, was aus dem Humus einer Kulturnation nach langer, achtsamer Pflege wachsen kann. Die Weltmacht Österreich als Kulturland verwirklicht sich halt auch in diesen touristisch gut verwertbaren Images von der Wiener Stadt, dem Strauß-Schani und dem Kaiserreich. Aber Österreichs Kultur fängt nicht beim Neujahrskonzert an, sondern an anderer Stelle. Dort, wo schon traditionell nicht allzu häufig Champagnerlaune herrscht, sondern wo die dicken Bretter der Kulturarbeit gebohrt werden. Nicht auf dem Thron, sondern oft am Rand einer Gesellschaft, die Kultur an sich nicht selten anfeindet. Weil sie kulturellen Reichtum als Luxus und Überfluss missversteht.

Die kulturelle Vielfalt im Herzen Europas ist das immaterielle Weltkulturerbe dieser Region. Diese Vielfalt existiert aufgrund des enormen Engagements der öffentlichen Hand, die diesen Bereich fördert, weil in ihm einmal ein wesentlicher Beitrag für eine funktionierende Gesellschaft erkannt worden ist. Nicht wegen der Umwegrentabilität und des Tourismus, das sind nur die ökonomischen Nebeneffekte.

Die sicher wieder fulminante Einschaltquote beim Neujahrskonzert kann nicht überstrahlen, dass der Kulturbereich gerade in einer Krise ist. Der Besucherinnen- und Besucherschwund in Kinos, Opernhäuser, Theatern, bei Konzerten und in Museen ist nicht zu übersehen. Nur die Events funktionieren und bringen die Verhältnisse aus der Balance. Es ist leichter, das Happel-Stadion mit einem Bruce-Springsteen-Konzert zu füllen, als 40 Besucher zu einer kleinen guten Band zu locken.

Die Pandemie hat die Entfremdung vom kulturellen Leben und der Rückzug ins digitale Biedermeier mit sich gebracht. Gewisse Entwicklungen wie die vom Kino hin zum Streaming wurden verstärkt und beschleunigt. Die Pandemie ist deshalb längst nicht vorbei, und nicht wenige Stimmen warnen davor, dass es nie mehr so werden wird, wie vorher. Die Inflation verschärft die Situation nur noch weiter.

Früher wurde – pathetisch gesagt – Kultur als Anker und Rettungsring in Stürmen des Daseins empfunden, nun schwindet das Bewusstsein dafür, dass Kunst, Musik, Film, Theater und Literatur Halt und Sinn geben. Die Politik muss sich deshalb vorbehaltlos zur Kunst bekennen, und den Rechenstift weglegen. Die Gesellschaft muss bereit sein, diesen Sektor weiter massiv zu unterstützen. Einige Maßnahmen sollte man sich gerade jetzt, in der Krise, leisten: Der Zutritt zu Bundes- und Landesmuseen etwa, der endlich für alle Staatsbürgerinnen und -bürger kostenlos werden muss.