Es war der 31. Oktober 1918. Egon Schiele, 27 Jahre alt, lag im Sterben. Zehntausende Menschen waren in Wien und Österreich gestorben, Millionen weltweit. Seine Frau Edith neben ihm war schon drei Tage zuvor an der Spanischen Grippe zugrunde gegangen. Jetzt wurde ihre Leiche abgeholt und auf den Leiterwagen zu den anderen geworfen. Schiele röchelte, wälzte sich, fiel in einen komatösen Schlaf und träumte sich hundert Jahre in die Zukunft.

Er träumte vom großen Glück der Zukunft, von den sozialen Medien und Netzwerken, von Twitter und Instagram und YouTube und Facebook, wo jeder, der glaubt, etwas zu sagen zu haben, auch Schauspieler, die ohnehin immer Texte aufsagen, nur eben gewöhnlich nicht die eigenen, Texte aufsagen, Shitstorms entfachen, „Satiren“ oder „Griffe ins Klo“ zum Besten geben (die ja oft synonym verwendet werden). In diesen kunterbunten virtuellen Paradiesen mischte sich immer alles, begeisterte Zustimmung und heftige Ablehnung.

Schiele träumte (zu seinem grenzenlosen Erstaunen) von „Schauspieler*innen“, die eine Internetaktion unter dem Motto #allesdichtmachen, #niewiederaufmachen und #lockdownfürimmer starteten, in der die Forderung erhoben wurde: „Schließen Sie ausnahmslos jede menschliche Wirkungsstätte und jeden Handelsplatz, nicht nur Theater, Cafés, Schulen, Fabriken, Buchhandlungen, Knopfläden nein, auch alle Lebensmittelläden, Wochenmärkte und vor allem auch all die Supermärkte: Sind wir erst am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert und allesamt mausetot, entziehen wir auch dem Virus und seiner hinterhältigen Mutantenbagage die Lebensgrundlage.“

Eine Schauspielerin faselte (ironisch) etwas von einer „selbstbestimmten Karriere“, die von oben geknickt worden sei. Eine Botschaft: „Lasset uns gemeinsam nur noch zu Hause bleiben.“ Eine andere Botschaft: „Selbst der Tod ist ja lediglich ein Fehler der Schöpfung. Wenn wir uns brav anstrengen, dann können wir mithilfe der modernen Wissenschaft diesen Fehler korrigieren. Befolgen Sie brav die Maßnahmen der Bundesregierung und bescheren Sie so mir und Ihnen ein ewiges Leben.“

Schieles Lungen schienen zu bersten. Er fragte sich, wann er aus diesem Fieber-Albtraum wieder aufwachen würde. Er erwachte nicht mehr. Auch seine Leiche wurde abgeholt und auf der Straße zu den übrigen auf den Leiterwagen geworfen.