Mit den ersten schmalen, finstren Tagen, wenn schon das Wetter ein Abschied ist, kommt die kalendarische Erinnerung, nicht zu vergessen. Auf den Friedhöfen brennen unversehens Kerzen, ein Licht für jeden, ebenso hell und ebenso schnell verloschen wie ein ganzes Leben, und nur auf den Gräbern der Toten, an die keiner denkt, gibt es eine kleine, einsame Dunkelheit.

Gedenken ist etwas Merkwürdiges, so notwendig die großen Abschiedsrituale sind, so wenig werden sie einem Verlorenen gerecht. Nur Gutes über die Toten sagt man und vergisst, dass einem ein halbes Leben fehlt, wenn man nur das zweifellos Schöne erinnert, umso mehr, wenn der Verstorbene der Vollständigkeit halber auf seine Bösartigkeiten, Fehler und Missverständnisse wert gelegt hat. Ein Stein mit Name zwischen anderen Steinen reicht nie aus, und in mancher Trauerrede auf einer Beerdigung erkennt man den, von dem sie handelt, erst gar nicht wieder, sodass man sich leise fragt, wer der Mensch ist, der da zu Grabe getragen wird.

Meine Gedenkzeremonien

Auch wenn man leicht glauben kann, für den Tod einen Gott und einen Ort zu brauchen, um ihm gebührend zu begegnen, sind mir die kleinen, höchstpersönlichen Zeremonien des Gedenkens die liebsten. Denn man trägt sie mit sich, seine Toten, die Geschichten von An- und Abwesenheit, man geht manchmal für Jahre neben einer Lücke in Menschenform durch die Welt, und manchmal für immer. Der Geruch eines Waschmittels, ein Lied im Radio, ein Schimpfwort auf der Straße, der Kindheitsgeschmack von Suppe und Kompott, Einzelheiten rufen sie zurück und mitunter bloß ihr jähes Fehlen, dessen man noch in der unpassendsten Sekunde gewahr werden kann, und an das man sich nie abschließend gewöhnt.

In den letzten Jahren sind einige Menschen meines Lebens gestorben, mehr als einer zu früh, auch wenn es kaum je einen richtigen Zeitpunkt für den Tod gibt, der dem Hinterbliebenen als Phänomen doch immer ein wenig falsch und unerhört unhöflich erscheint. Nicht jeder stand mir gleich nah, aber keiner war fern genug, als dass es nicht unendlich traurig gewesen wäre. Abseits der metaphysischen Traurigkeit sind mir Gebrauchsgegenstände – ein Haufen verschlossener Zahnpastatuben, eine Zuckerdose, ein Fön – geblieben und mit ihnen wunderschön schmucklose, pragmatische Alltagsandachtsrituale. So kommt es, dass ich stets dreimal am Tag, wann immer ich mir die Zähne putze, an meine Tante denke, als winzige, wiederkehrende Erinnerungszeremonie mit Pfefferminz auf der Zunge, und trockne ich mir die Haare, mir ein ums andere Mal das karge Gesicht meiner Großmutter im Spiegel vorstelle. Im Badezimmer lebe ich fröhlich mit den Toten, die auch in den Dingen aufbewahrt sind, im Setzkasten des Erinnerns, nicht abstrakt, aber konkret.

Auch alle Telefonnummern meiner Verlorenen habe ich behalten, im Namensverzeichnis stehen sie zwischen den Lebenden, als könnte man sie jederzeit anrufen und würde an ihre Unerreichbarkeit nicht glauben. Wozu auch. Gerne sehe ich sie auf der Liste, stolpere für einen Augenblick über sie und widerstehe dem Versuch, die Nummer zu wählen und mich im Rauschen der Leitung zu verlieren oder gar – das Schlimmste – jemanden, den ich nicht gesucht habe, am anderen Ende zu finden.

Ich liebe Friedhöfe

Ich denke und gedenke gerne privat, aber ich liebe Friedhöfe, und die Geschichten, die mit ihnen kommen. Es sind sonderbare, verdichtete Orte, an denen die Toten, aber auch die Lebenden zu Ruhe kommen können. Auf jene in der Erde kann man sich verlassen, sie sind final verpuppt, bleiben, wer sie waren, ersparen einem die Überraschung, dass immer alles anders wird. Es gibt alles, was man braucht, Stille, den schweren Blumenduft der letzten Sommertage, wenn die Kränze in der Sonne verblühen, oder die reduzierte Geometrie von Stein und Kälte, schon bevor der Winter da ist. Man ist nie einsam, und besonders schöne Namen auf fremden Grabsteinen borge ich mir mitunter für die Figuren meiner Bücher aus und leihe mir die Unbekannten für ein paar Sätze oder ein ganzes erfundenes Leben.

Auch auf Reisen zieht es mich zu den Gottesackern. Vor Kurzem habe ich die armenischen Friedhöfe bestaunt. Man nimmt es sehr genau mit dem Tod in Armenien, denn auf den Grabsteinen sind nicht nur die Verstorbenen selbst im feinsten Zwirn oder besten Jogginganzug abgebildet, sondern mitunter auch der Wagen, die Zigarette, das Gewehr, das ihnen zum Verhängnis wurde. Man kennt sich aus. Und zwischen den Begräbnisstätten und Trauergestecken stehen rostige Picknicktischchen, auf den sich die Besucher an Käse, Zwetschken und Kartoffeln satt essen, als wäre es ein fröhlicher Widerstand gegen den Tod, als wollten sie alles, aber nicht so dürr werden wie die Skelettmenschen im Boden. Als ich vor ein paar Jahren in Madagaskar war, aber war es umgekehrt: Da kamen nicht die Lebenden zu Besuch, sondern man trug die Toten aus ihren Felsgräbern heim ins Dorf, feierte mit ihren bleichen Knochen ein rauschendes Fest und brachte sie erst, wenn man sich genug mit ihnen gefreut hatte, zurück in ihre Dämmerverstecke.

Die beste Vorbereitung auf das Sterben, erzählen einem die Leute, die sich nicht davor zu fürchten scheinen, sei das Leben. Eines, das man herz- und fehlerhaft lebt, aber nie halb. Eines, in dem man das Wünschen und die Endlichkeit ernst nimmt, das Unversuchte nicht unversucht lässt, um alle Narben weiß, und liebt, als hätte man sie nicht. Eines, in dem man hungrig bleibt wider Vernunft und weich trotz Erfahrung, und widerborstig das Unmögliche hegt und pflegt, und nicht aufhört damit. Und wer sich am Ende aller Tage nicht sicher ist und glaubt, nach der Endlich- zu allem Überfluss auch noch die Unendlichkeit ertragen zu können, greift zum königlichen Zweifler-Gebet von Friedrich dem Großen: Gott, falls es dich gibt: Rette meine Seele, wenn ich eine habe.