1. Verglichen mit den in Europa umlaufenden Konflikten und Notständen leben wir hier, in Österreich, auf der sprichwörtlichen „Insel der Seligen“ – und dies nicht zuletzt dank der Europäischen Union und ihrer Werte. Doch bei großen Teilen unserer Bevölkerung wurde die tägliche Verdrossenheit zu einer Art Alltagsfolklore. Man fühlt sich bürokratisch drangsaliert und politisch hintergangen, von den Fremden bedroht und von den Mächtigen ausgenutzt; als Patriot wird man gleich einer rassistischen Gesinnung verdächtigt, oder?

2. Angesichts des Übellaunigkeitskatalogs voller Beschwerden und Klagen gilt es ohne Wenn und Aber festzuhalten: So gut wie hier, im „Land inmitten“ – um eine hellsichtige Wendung aus unserer Bundeshymne zu bemühen –, ist es uns noch nie gegangen. Wir sind eine liberale Demokratie, menschen- und grundrechtlich besorgt, mit einer funktionierenden Gewaltenteilung; wir waren bisher sozialpartnerschaftlich befriedet und um sozialstaatliche Sicherungen bemüht; und bis auf Weiteres sind wir mit einem Wohlstandsniveau gesegnet, das nur von den wenigen Staaten übertroffen wird, wo das Erdöl oder sonst ein ökonomischer Gesundbrunnen sprudelt.

3. Die Bestrebungen der Schöpfer unseres Gemeinwesens, die keineswegs alle dieselbe Ansicht über die Natur des Menschen, die Religion und die Ausgestaltung der staatlichen Autorität teilten, führten über tausenderlei Kompromisse hinweg in eine Richtung, für die nach wie vor der angeblich abgegriffene Begriff des Humanismus am besten geeignet scheint. Kulturgeschichtlich Kundige werden gleich nachfragen: Ja, welcher Humanismus denn – der antike, christliche, neuzeitliche, marxistische, liberale, existenzialistische? Die richtige Antwort lautet wohl: Keiner von allen und von allen doch etwas!

4. Dem Humanisten ist es darum zu tun, eine Gesellschaftsordnung auf Dauer zu stellen, worin sich der Mensch, dieses so empfindliche, leidfähige, aber auch zu äußerstem Hass und grässlichster Niedertracht fähige Wesen, mit anderen zusammen als Individuum möglichst wohlbefindlich entfalten kann. Das gilt für alle Altersgruppen, Geschlechter, für kulturelle und religiöse Prägungen. Dass der „Mensch im Mittelpunkt“ zu stehen habe, ist zwar eine oberflächliche Redensart, aber ihr wohnt eine tiefgründige Wahrheit inne. Wir Menschen sind mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und, darüber hinaus, zur Einfühlung in den anderen ausgestattet wie sonst kein intelligenter Organismus auf Erden.

5. Aus seinen Fähigkeiten erwächst dem Menschen ein ethischer Sinn, der auf die Einrichtung einer universell gültigen Moral drängt. Darin liegt die Voraussetzung zur Schaffung einer Welt, worin alle Geschöpfe, ob der Spezies Homo sapiens oder einer anderen Lebensform zugehörig, darauf vertrauen könnten, ihrer Art und Verfassung gemäß behandelt zu werden. Für den Humanisten ist die Welt ein Garten, der pfleglich zu gestalten wäre, denn das Paradies ist, wie uns der Mythos wissen lässt, dauerhaft verspielt. Einzig wir, als „Weltgärtner“, hätten dafür Sorge zu tragen, dass nicht Teile der Welt veröden und unsere Mitgeschöpfe verelenden.

6. Aber wird durch die Berufung auf ein „Weltethos“ nicht so getan, als ob es unserem „Land inmitten“ möglich und zumutbar wäre, Verantwortung für die acht Milliarden zu übernehmen, welche demnächst die großflächig hungernde, fliehende, krankheitsgeplagte Menschheit bilden werden? Überhaupt nimmt die Globalisierung kaum Rücksicht auf humane Empfindlichkeiten, ob es sich um die Verteilung von Arbeit, Gütern, Schadstoffen, Drogen, Waffen oder die Eitelkeiten jener handelt, welche als Möchtegerncäsaren mit Atombombenknöpfen, Strafzöllen und Tausende Kilometer langen Mauern zur Abwehr unliebsamer Eindringlinge drohen. „Humanismus“ – ist das nicht Schönrednerei zur Gewissensberuhigung?

7. Nein. Denn der Humanismus entfaltet als „regulative Idee“ – und daher als moralische Vision – seine reale Wirkung. Das humanistische Credo gibt den Menschen die Gewissheit, dass Unterdrückung, Ungleichheit und ein Leben in Furcht nichts sind, was uns schicksalhaft bindet. Wir Menschen sind zur Menschlichkeit fähig! Das ist der Punkt, an dem all jene Systeme unter Rechtfertigungsdruck geraten, welche die Not und Angst der Bevölkerung auf innere und äußere Feinde abschieben, während sie im Gegenzug zu kollektiver Hartherzigkeit, militantem Nationalismus und einer „gemeinwohlorientierten“ Duldung sozialer Ungerechtigkeit verpflichten.

8. Für unser Lebensmodell sind zurzeit solche Verhärtungen am gefährlichsten, die von den trendigen Rechtspopulisten auf der Basis einer „gefühlten Unsicherheit“ im Volk geschürt werden. Dass dieses Gefühl durch die Kriminalstatistik kaum bestätigt wird, ändert nichts an der Dringlichkeit, ihm eine „verantwortungsethische“ Politik entgegenzusetzen, die zweierlei leistet: Einerseits gilt es, sich gegenüber dem Schicksal der Millionen nach Europa Drängenden nicht unmenschlich zu verhärten, die Flüchtenden sterben zu lassen oder wie Vieh in fernen Lagern zu konzentrieren nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Andererseits muss der ungeregelte Zustrom rechtsstaatlich verhindert werden, ansonsten sich auch bei uns ebenjene Politik der Härte durchsetzen wird, für die Worte wie „Humanität“ und „Menschenwürde“ bloß gesinnungsethische Rührseligkeitsfloskeln sind.

9. Dagegen scheinen die Gefahren, die unserer Gesellschaft aus dem sogenannten Posthumanismus erwachsen, vorerst eher utopisch. Worum geht es? Kurz, um die Überwindung des „alten Adam“, seiner Untiefen und Schwächen mithilfe neuer, ans titanenhafte grenzender Technologien. Das beginnt bei der Vorstellung des Cyborgs, eines umweltoptimierten Mensch-Maschine-Wesens, reicht über den genetischen Selbstumbau der humanen Gattung bis hin zu Fantasien des ewigen Lebens.

10. Auch wenn wir von der durchgehenden Realisierung der posthumanistischen Ideen weit entfernt sein mögen, so spuken sie doch in den Köpfen unserer Avantgarden und verändern unser Selbstbild, quasi als Vorlaufbewegung in eine totalitäre Richtung. Die dazu erforderlichen institutionellen Fundamente würden eine Gesellschaft erzeugen, die, „jenseits von Freiheit und Würde“, wieder in Klassen der Fremdbestimmtheit zerfiele: Wohllebens-, Schönheits-, Arbeits-, Langlebensklassen, bis hin zu den Superreichen, die nach Unsterblichkeit streben. Noch ein Grund mehr, dass wir uns auf unsere Freiheit – Freiheit zur Selbstbestimmung und Freiheit von staatlicher Repression – unter dem Vorzeichen gleicher Menschenwürde besinnen!