Ein Wortgefecht ohne Sichtkontakt.
Die Kontrahenten Armin Thurnher und Michael Fleischhacker sitzen vor ihren Laptops, schärfen Argumente und gehorchen drei Regeln:

  1. Das Thema wird von Kleine-Zeitung-Chefredakteur Hubert Patterer vorgegeben, von Fußball bis Raumfahrt ist alles möglich
  2. Das erste Wort wird abwechselnd erteilt, genauso das letzte. Endlich kann geklärt werden, was wichtiger ist. 
  3. Die Zahl der Worte wird streng geteilt: Jeder hat gleich viel Platz, es sei denn, einer verzichtet zugunsten des anderen.


ARMIN THURNHER:
Ehe ich den Wettbewerb „Wer sich zuerst bewegt, verliert“ überhaupt beginne, habe ich ihn schon verloren. Ich setze gleich den Schiller her: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ Das kennt jeder. Fast jeder zitiert es falsch (im Frieden leben statt bleiben, Nachbarn statt Nachbar). Dafür haben die meisten vergessen, dass es sich auf Österreich bezieht. Nicht auf die Republik, naturgemäß, aber auf Habsburg, das die kleine Schweiz des Wilhelm Tell nicht in Ruhe ließ. Die Republik kann Gott sei Dank im feudalen Sinn niemanden mehr sekkieren, aber sie tut, was sie kann.

MICHAEL FLEISCHHACKER: Andererseits haben die Österreicher dann später die Aktion „Nachbar in Not“ entwickelt, eine der ersten großen Aktionen des humanitarian broadcasting im ORF. Einer unserer lustigsten Kleine-Zeitung-Kollegen hat den Slogan damals, vor bald 30 Jahren, sofort bis zur Kenntlichkeit entstellt: „Nachtbar in Not – Rettet das Café Pipsi“. Will heißen: Das humanitäre Pathos der Nachbarschaftshilfe hat immer einen seltsamen, zwischen Paternalismus und Pharisäertum oszillierenden Beigeschmack.

THURNHER: Stimmt. Wobei ich kürzlich gehört habe, die Pharisäer haben ihren schlechten Ruf zu Unrecht. Aber ich weiß, was Sie meinen. Privat ist man hilfsbereit, vom Staat erwartet man eine harte Hand. Exemplarisch in Flüchtlingsfragen. 1956 waren Ungarnflüchtlinge sonder Zahl willkommen, 2015 sah die Sache mit den Flüchtlingen schon anders aus. Aber das waren keine Nachbarn. Die damals ausgesetzten oder vergessenen Grenzerfunktionen üben wir mittlerweile exzessiv, ja lustvoll aus. Grenzen zu, das soll wohl auch zeigen, wir sind wieder wer.

FLEISCHHACKER: Ich glaube, dass die emphatische Rede von der Nachbarschaft im Politischen eine riskante Angelegenheit ist. Denn eigentlich werden benachbarte staatliche Gebilde in der Regel als „Hinterhof“ oder als „Big Brother“ gesehen, wenn es nennenswerte Größen- oder Machtunterschiede gibt. Bei Ebenbürtigkeit haben wir es mit „Erzfeinden“ zu tun, wie Deutschland und Frankreich, die unter den EU-phemistischen Bedingungen des postheroischen Zeitalters als „Erzfreunde“ ihr ambivalentes Dasein fristen.

THURNHER: Gut, aber unter zeitgenössischen Wirtschaftsbedingungen stellt sich das alles anders dar. Die Kapitalverflechtungen des EU-Raums sollen diese Beziehungen befrieden und sie tun es auch. Wir als Österreich sind per Verfassung die Negation des deutschen Staates, wirtschaftlich hingegen eine Art deutsches Bundesland. Auch haben sich grenzüberschreitende Regionen herausgebildet, die es nur teilweise zulassen, dass Staaten auf ihre Gestalt und ihr Gehabe als Nationalstaat zurückfallen und den Balken herunterlassen. Und doch findet gerade das jetzt statt. Die extreme Rechte badet in diesem Gefühl. Die Slowenen erinnern sich mit Erbitterung an das Kickl-Spektakel des Vier-Kilometer-Zauns von Spielfeld samt lächerlicher Imperatoren-Inszenierung.

FLEISCHHACKER: Man könnte sagen, das ist das Ethos des Kapitalismus. Wo Geld fließt, fließt kein Blut. Aber ich habe das Gefühl, wir reden ein bisschen um den heißen Brei herum, lieber Thurnher. Ich halte den Nationalstaat für das natürliche Gefäß der parlamentarischen Demokratie und ich glaube, dass Grenzen eine gute Sache sind, und der Ernstfall der Grenze ist nun einmal ihre Schließung. Wie im Tennis ist aber auch in Fragen der Grenzschließung Timing alles. Wir haben die Grenzen zu spät geschlossen, und wir haben sie zu lange geschlossen gehalten.

THURNHER: Kann sein, epidemiologisch ist man bekanntlich nachher immer klüger. Den Nationalstaat halte ich für ein Gefäß der Demokratie, das diese gern kriegerisch überkochen lässt, weil es für den Herd des globalen Kapitalismus ungeeignet ist. Reden wir also Heißbrei: Ich halte erstens das Getue unserer Regierung mit Grenzschließungen (Italien, Slowenien) und Grenzöffnungsversuchen (Deutschland) für ein Problem. Man schielt auf die deutschen Touristen und möchte Ströme in die andere Richtung blockieren. Dass man dabei den Italienern vor den Kopf stößt, die einen Gutteil des Wien-Tourismus ausmachen, nimmt man billigend in Kauf. Zweitens ist die ostentative Mitgliedschaft im knickrigen Quartett ein lausiger Affront des südlichen Nachbarn.

FLEISCHHACKER: Ich denke, dass sich die Konfusion, die wir derzeit beobachten können, weil sich noch niemand so recht zuzugeben traut, dass die Coronasaison vorbei ist, und weil die Regierung noch immer damit beschäftigt ist, zu beweisen, dass sie immer alles richtig gemacht hat, bald vorbei sein wird. Spätestens Ende Juni ist der Spuk vorbei, und die Grenzen werden alle offen sein. Was die Finanzen betrifft, ist man, glaube ich, beim knickrigen Quartett ganz gut aufgehoben. Ich halte es nicht für sinnvoll, die Grundregeln der Europäischen Union unter dem Deckmäntelchen der humanitären Hilfe auszuhebeln.

THURNHER: Dass Sie sprechen wie der Kanzler, lieber Fleischhacker, ist auch einmal etwas Neues. Ich begrüße diesen Anflug des Staatsmännischen an Ihnen. Sachlich werden wir uns nicht einig. Die Hilfe ist ja nicht humanitär, sie hat nur den Erhalt des gemeinsamen Wirtschaftsraums im Sinn, im, wie man so sagt, wohlverstandenen Eigeninteresse. Und sie wird kommen, daran ändern die imagetrunkenen Gesten am Ballhausplatz gar nichts. Ich
bedauere aber gleichzeitig das regierungsseitig zerschlagene Porzellan jenseits unserer Grenzen.

FLEISCHHACKER: Ich kann mich nicht darum kümmern, wer sonst noch so spricht wie ich, lieber Thurnher, aber es soll mir recht sein, wenn es der Bundeskanzler ist. In den Grundfragen der Nationalökonomie sehe ich auch relativ wenig Einigungspotenzial zwischen uns beiden, und deshalb wird die Frage, worin das wohlverstandene Eigeninteresse besteht, unbeantwortet bleiben müssen. Wahr ist, dass meine und die Einwände des Bundeskanzlers niemanden daran hindern werden, aus der Union den Club Med zu machen. Wenn Sie schon die knickrigen Vier für imagetrunken halten, was ist dann mit Merkel und Macron?

THURNHER: „Imagetrunken“ galt nur dem Kanzler. Ich halte Merkel und Macron für politisch und ökonomisch kompetenter. Frau Merkel hat in der Coronakrise deutlich dezenter und angemessener agiert als unser Bundeskanzler. Mit dem Blick auf unsere Nachbarn hoffe ich, er weiß, was er tut, aber ich bezweifle es.

FLEISCHHACKER: So let’s agree to disagree. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er weiß, was er tut, der Bundeskanzler. Mein
Problem mit ihm war in dieser Krise eher, dass er nicht tut, was er weiß.