Eine knappe Woche nach den verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind laut offiziellen Zählungen mehr als 35.000 Menschen gestorben. Während alleine in der Türkei 29.605 Tote registriert wurden, meldete die UNO 5.900 Tote aus Syrien. Wie der WHO-Nothilfekoordinator Richard Brennan am Sonntag sagte, kam die Mehrzahl davon (4.500) in den Rebellengebieten ums Leben.

UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte am Samstag bei einem Besuch im Erdbebengebiet in der Türkei im Sender Sky News, eine genaue Schätzung der Verstorbenen sei nach wie vor schwierig. Die Opferzahl werde sich aber sicherlich noch "verdoppeln oder mehr". Griffiths übte zugleich scharfe Kritik am internationalen "Versagen" bei der Hilfe für die Erdbebenopfer im Bürgerkriegsland Syrien. "Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen", schrieb er am Sonntag auf Twitter. Ein UNO-Konvoi mit zehn Lastwagen hatte Syrien am Donnerstag aus der Türkei erreicht, doch ist laut Griffiths viel mehr Hilfe nötig. 5,3 Millionen Menschen könnten in Syrien durch das Beben obdachlos geworden sein.

Erschwert wird die Hilfe durch die Sicherheitslage im Bürgerkriegsland. Eine geplante Lieferung von Hilfsgütern aus Regierungsgebieten in die Provinz Idlib sei gestoppt worden, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Regierungskreisen am Sonntag. Die vom Syrischen Roten Halbmond zur Verfügung gestellten Güter sollten demnach über den Ort Sarakib nach Idlib geliefert werden. Aktivisten zufolge blockierte die Miliz HTS, die das Gebiet dominiert, diese Lieferung dann aber.

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus berichtete indes, dass der syrische Machthaber Bashar al-Assad die Öffnung weiterer Grenzübergänge für Hilfslieferungen in die Rebellengebiete erwäge. Assad habe seine Bereitschaft angedeutet, "zusätzliche grenzüberschreitende Zugangspunkte für diesen Notfall in Betracht zu ziehen", sagte Tedros nach einem Treffen mit Assad am Sonntag in Damaskus.

Sicherheitslage erschwert Rettungsmission

Die schwierige Sicherheitslage an Ort und Stelle verlangsamte die Rettungsaktion verschiedener Hilfsgruppen am Samstag zusätzlich. Die österreichischen Soldaten und Soldatinnen - wie auch deutsche und ungarische Helfer - mussten ihren Einsatz zeitweise unterbrechen, weil die Arbeit zu gefährlich geworden war. Zunehmende Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei - Schusswechsel inklusive - hätte diese Entscheidung notwendig gemacht.

Zwischenzeitlich konnten die Österreicher ihre Arbeiten wieder aufnehmen. "Die türkischen Sicherheitskräfte schaffen uns ein sicheres Umfeld", sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis Sonntagvormittag der APA. Am Samstag seien die Helfer ab dem Nachmittag noch bei zwei Einsätzen zum Teil bis in die Nacht aktiv gewesen, um örtliche Hilfsgruppen zu unterstützen.

Mehr als 2.000 Nachbeben

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 zu Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2.000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte. Viele Menschen verloren ihr Zuhause: Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan suchten inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz.

Der türkische Vize-Präsident Oktay sagte weiter, die Staatsanwaltschaften hätten auf Anweisung des Justizministeriums in zehn Provinzen, die von den Erdbeben betroffen waren, Abteilungen für die Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Erdbeben eingerichtet. Ermittelt worden seien 131 Menschen, die verantwortlich für Gebäude seien, die zusammengestürzt seien. Gegen 113 weitere sei Haftbefehl erlassen worden. Am Sonntag hat es eine weitere Festnahme von einem Bauunternehmer gegeben, der für die Bauleitung zahlreicher eingestürzter Gebäude in Adiyaman verantwortlich gewesen sein soll. Er sei mit seiner Ehefrau am Istanbuler Flughafen gefasst worden, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Sonntag. Die beiden hätten sich mit einer großen Menge Bargeld nach Georgien absetzen wollen.

Der türkische Städteminister Murat Kurum sagte, mittlerweile seien knapp 172.000 Gebäude in zehn Provinzen überprüft worden. Festgestellt worden sei, dass rund 25.000 schwer beschädigt worden seien oder dringend abgerissen werden müssten.

Hoffnungsschimmer: Noch immer werden Menschen gerettet

Trotzdem gab es zuletzt bei den Bergungen immer wieder Hoffnungsschimmer. Fast eine Woche nach dem Erdbeben gab es doch noch Lebendrettungen. So wurde in Antakya ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt, berichtete der staatliche türkische Fernsehsender TRT. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben. In der Stadt Kahramanmaras wurde ein neun Jahre alter Bub nach rund 120 Stunden gefunden, in Hatay eine 63-Jährige sogar nach 157 Stunden.

In den betroffenen Gebieten wächst nun auch die Gefahr von Krankheiten. Laut dem Emergency WASH (Water Sanitation Hygiene) Experten des Österreichischen Roten Kreuzes, Georg Ecker, ist das Wasserversorgungs- und Entsorgungssystem im Erdbebengebiet schwer beeinträchtig. Daher sind die Menschen von Oberflächenwasser - wie etwa Flüsse oder Seen - abhängig, die wiederum durch Fäkalien verunreinigt sind, weil die Menschen aufgrund der zerstörten Gebäude keine Sanitäreinrichtungen haben. Zudem könnten Grundwassersysteme aufgrund der Erdstöße verschoben oder unterbrochen sein, so Ecker. Es bestehe daher auch die Gefahr der Kontamination von Grundwasser. Wenn Menschen keine andere Alternative haben als verunreinigtes Wasser zu trinken, könne dies zu rasch zu Krankheiten wie Durchfall führen. In Syrien gebe es seit längerer Zeit immer wieder Cholera Ausbrüche und dadurch könne es sein, dass sich die Situation aufgrund der schlechten Wasser- und Hygieneverhältnisse verschlechtert bzw. bestehe aufgrund des Grenzgebietes ein Risiko, dass Cholera auch in die Türkei übersetzt.