Eine 21-Jährige, die in Kurzvideos ihren Alltag auf TikTok dokumentiert: Das klingt nicht weiter ungewöhnlich. Anders als man das bei der chinesischen Social-Media-Plattform erwarten würde, bekommt man bei Valeria Shashenok aber nicht etwa lustige Tanzvideos zu sehen, sondern Szenen aus dem grausamen Kriegsalltag in der Ukraine. Die junge Frau nimmt ihre Zuschauer mit, wenn sie durch völlig zerstörte Nachbarschaften geht, wenn sie im Supermarkt vor leer geräumten Regalen steht oder wenn sie im Bombenschutzkeller statt mit einem Föhn mit einer Heißluftpistole ihre Haare trocknen muss. Versehen hat die TikTokerin ihre Clips – trotz ihrer allzu widrigen Lebensumstände – mit einer gehörigen Portion Sarkasmus.

So trägt ein Video, in dem sie den Alltag im Luftschutzbunker filmt, den ironischen Untertitel: "Living my best life, thanks Russia" (deutsch: „Lebe mein bestes Leben, danke Russland“). In einem anderen Clip filmt sie die Ausstattung im Bunker, ihr Kommentar: "Welcome to my 5 stars hotel" (deutsch: "Willkommen in meinem 5-Sterne-Hotel"). 

TikTok gegen die Langeweile im Bunker

Auf die Idee zum Kriegs-Tagebuch in Videoformat kam die Ukrainerin aus Langeweile, während sie gemeinsam mit ihren Eltern im Bunker ausharrte: "Weil es dort WLAN gab und die Tage verdammt lange und auch langweilig waren, postete ich Videos, die mein neues Zuhause vorstellen sollten." 

Womit die junge Frau nicht gerechnet hat, ist die Resonanz, auf die sie stoßen würde. Über 48 Millionen Menschen haben alleine das Video gesehen, in dem sie ihren Bunker-Alltag filmt. 33.000 Kommentare tummeln sich darunter. Valeria Shashenok beschließt daraufhin, der Welt zu zeigen, was sich in ihrer Heimatstadt Tschernihiw tatsächlich abspielt, womit die Menschen in der Ukraine Tag für Tag zu kämpfen haben. 

Von Bomben und Bunkern über Berlin nach Mailand

Sie filmt und dokumentiert den Kriegsalltag eifrig weiter – und dennoch ahnt sie bereits, dass sie nicht in der Ukraine bleiben kann. Siebzehn Tage harrt sie noch in Tschernihiw aus, bevor sie sich dazu entscheidet, die Flucht anzutreten. Ihre Eltern können die 21-Jährige nicht begleiten: Der Vater darf das Land nicht verlassen, die Mutter möchte ihren Mann nicht alleine lassen. Aber Valeria hat Glück: Ein Ehepaar bietet ihr an, sie im Auto mitzunehmen. Von ihrer Heimatstadt geht es schließlich nach Kiew. Sieben Stunden brauchen sie für den Weg – eine Strecke, die normalerweise in 2 Stunden zu bewältigen ist.

Aber die Angst, unterwegs auf russische Soldaten zu treffen, ist groß: "Es war vielleicht 20.00 Uhr. Wir konnten beim Fahren kein Licht verwenden, sind durch Wälder und Felder gefahren. Vor uns waren in einer Kolonne dreißig andere Autos. Plötzlich hielt jemand an und alle kamen zum Stehen. In dem Moment hatte ich schreckliche Angst, dass es die Russen sein könnten." Kurze Zeit später können sie aufatmen. Es stellt sich heraus, dass ein Auto weiter vorne eine Panne hat. Sie schaffen es schließlich nach Kiew, Valeria reist von dort aus alleine weiter – mit dem Zug Richtung Westukraine. "Ich erinnere mich genau an den Geruch, als wir den Bahnhof von Lemberg erreichten. Es roch nach Menschen, nach Essen und nach Unglück", erinnert sie sich an die Strapazen der Flucht.

Von Lemberg geht es im Zug dann weiter nach Warschau, wo sie für ein paar Tage Unterschlupf bei einer Freundin finden kann. Schließlich fährt sie mit dem Bus weiter, über Berlin nach Mailand: dem Ort, der nun auf unbestimmte Zeit ihr neues Zuhause sein wird.

Zwischen Hoffnung und Sorge: Ankommen in Italien

"Viele Menschen denken, dass es in Mailand ein touristisches Leben sein muss. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man am Reisen ist oder sich auf der Flucht befindet." An ihr neues Leben in Mailand muss sich die Ukrainerin noch gewöhnen. Halt gibt ihr ihre beste Freundin, die ebenfalls nach Mailand flüchten konnte: "Sie ist wie eine Schwester für mich. Es ist toll, hier jemanden zu haben, mit dem man sich in seiner Muttersprache unterhalten kann."

Valeria Shashenok in Italien.
Valeria Shashenok in Italien. © Valeria Shashenok

Ihre Eltern vermisst Valeria dennoch sehr, genauso wie ihre Heimatstadt. Ihr sehnlichster Wunsch: nach Hause zu können. Bevor sie am Abend schlafen geht, malt sie sich aus, wie die ganze Ukraine feiert, dass der Krieg vorbei ist – wie alle zurückkehren. "Ich möchte in die Ukraine zurück – aber nicht, wenn die Ukraine dann Russland heißt."

Valeria Shashenok: "Ich möchte meine Geschichte erzählen"

Ihre Erfahrungen im Krieg und auf der Flucht hat Valeria Shashenok nun in einem Buch verarbeitet. Der Titel: "24. Februar...und der Himmel war nicht mehr blau" (eine kostenlose Leseprobe gibt es über die Verlags-Homepage "story.one"). Damit versucht sie, den Krieg abseits von Zahlen und politischer Eskalationen begreifbar zu machen. Wichtig ist ihr, dass jeder davon erfährt, was passiert ist: "Dieser Krieg ist schreckliche Realität für mich geworden. Erst ist absurd, er ist surreal, und der Tod passiert genau jetzt, und niemand kann daran etwas ändern."

Valeria Shashenok: "24. Februar... und der Himmel war nicht mehr blau" (story.one), 90 Seiten mit Fotografien, € 16,00
Valeria Shashenok: "24. Februar... und der Himmel war nicht mehr blau" (story.one), 90 Seiten mit Fotografien, € 16,00 © Valeria Shashenok

Auf die Frage hin, wem sie das Buch widmet, antwortet Valeria: "Den Russinen und Russen, damit sie verstehen. Noch immer glauben viele von ihnen nicht, was in der Ukraine passiert."

Video: Gibt es im Krieg Regeln? Die wichtigsten Fragen und Antworten