Die einen sprechen von "Ground Zero" wie nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York, die anderen von einer Szenerie wie nach einem Bombeneinschlag. US-Präsident Joe Biden nennt es schlicht eine "Tragödie": Dutzende Tornados sind in der Nacht auf Samstag durch sechs Bundesstaaten im Herzen der USA gezogen und haben Tod und Verwüstung hinterlassen. Nirgendwo aber war es so schlimm wie in der Kleinstadt Mayfield in Kentucky.

"Wir standen etwa sieben Minuten lang im Schutzraum, dann war es vorbei. So schnell war es vorbei", erzählt David Norseworthy am Tag danach. "So etwas haben wir noch nie erlebt", fügt der 69-Jährige fassungslos hinzu.

Rasend schnell war der Tornado über Mayfield hereingefallen - übrig blieb ein Trümmerfeld. Die alten Backsteingebäude auf dem Broadway, auf die Mayfields Bewohner so stolz sind, wurden teils bis auf die Grundmauern zerstört, ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht. Umgestürzte Strommasten und Bäume, verbeulte Autos, Schutt und verstreute Alltagsobjekte, die von der Windhose wild durch die Gegend geschleudert wurden - so sieht die wüste Szenerie in dem einst pittoresken Ort nun aus.

Geradezu surreal wirkt, dass jedoch manche Weihnachtsdekorationen die Katastrophe überstanden haben. An einigen Stellen hängt der Dekor noch am Straßenrand.

Kerzenfabrik stürzte ein

Das Fest der Freude ist sogar ein wenig mitverantwortlich für das größte Unglück, das der 10.000 Einwohner zählende Ort jemals erlebt hat: In der Kerzenfabrik, einem Familienunternehmen, herrschte Hochbetrieb, als das Dach einstürzte und rund 110 Menschen unter sich begrub. 40 von ihnen konnten nach und nach gerettet werden, doch für die anderen gibt es kaum noch Hoffnung.

Zu den Geretteten gehört Kyanna Parsons-Perez. Der Sender CNN veröffentlichte den verzweifelten Hilferuf der Fabrikarbeiterin im Onlinenetzwerk Facebook, bevor die Bergungskräfte sie fanden. "Wir sind eingeschlossen, bitte holt Hilfe", fleht sie mit zittriger Stimme, während im Hintergrund das Stöhnen eines Kollegen zu hören ist.

Nach Stunden aus den Trümmern geborgen wurde auch der Schwager von Mitchell Fowler. Das ist für Restaurantbesitzer Fowler die einzige gute Nachricht am Tag nach dem Tornado. Denn sein Lokal ist nach 38 Jahren im Familienbesitz verwüstet.

Er habe das Restaurant am Freitag gegen 20.00 Uhr geschlossen und sich auf den Weg zu seinem eigenen Haus etwa 13 Kilometer außerhalb der Stadt gemacht, erzählt der 70-Jährige der Nachrichtenagentur AFP. "Ich war noch nicht zu Hause, da war es weg". Über das Restaurant sagt er: "Das war mein Leben, alle meine Kinder arbeiten hier".

Nun spendet Fowler die Lebensmittel, die in seinen Kühlschränken sonst verdorben wären. "Wir versuchen, den Menschen in Not zu helfen". Überall in Mayfield verteilen freiwillige Helfer Wasser, Lebensmittel, Windeln und warme Kleidung an die Bewohner.

320 Kilometer Verwüstung

Allein in Kentucky hat der eine Tornado laut Gouverneur Andy Beshear auf einer Strecke von 320 Kilometern gewütet, allein dort befürchtet Beshear mehr als hundert Todesopfer. In den anderen fünf Bundesstaaten wurden Dutzende weitere der wahnsinnig schnell rotierenden Luftwirbel gezählt.

Die Katastrophe traf unter anderem ein Pflegeheim in Arkansas und eine Lagerhalle des Onlinehändlers Amazon in Edwardsville in Illinois. Wie in der Kerzenfabrik hatte auch dort in der Nacht auf Samstag Hochbetrieb geherrscht: Rund hundert Amazon-Mitarbeiter bearbeiteten gerade Weihnachtsbestellungen, als ein Tornado das Gebäude traf. 45 von ihnen konnten lebend, sechs andere nur noch tot geborgen werden. Dass es noch weitere Überlebende gibt, glaubt auch in Edwardsville niemand mehr.