Heute kurz vor 20 Uhr wird der Pariser Erzbischof Laurent Ulrich mit seinem Bischofsstab an die Tore Notre-Dames klopfen und sein Wort an die Kathedrale richten wie an eine Person. Aus dem Inneren wird der Chor der berühmten Musikakademie Maîtrise de Notre-Dame antworten. Zweimal wird er dieses Ritual wiederholen, dann öffnen sich die Pforten. Wenn die 1500 geladenen Gäste, darunter rund 50 Staatschefs, dem Bischof begleitet von Fernsehkameras in die Kathedrale folgen, wird die Welt Notre-Dame wiederentdecken. Fünfeinhalb Jahre nach dem Feuer, das den Dachstuhl und den Vierungsturm zerstört und Löcher ins Gewölbe des Mittelschiffs gerissen hat, steht Notre-Dame den Gläubigen und Besuchern aus Welt wieder offen.
Das Innere der Kathedrale wird ungewohnt strahlen, denn die alten Gemäuer sind vom Ruß des Feuers und vom Dreck der Jahrhunderte gesäubert, das liturgische Mobiliar ist erneuert worden, die Bestuhlung modern, die Kapellen in der Apsis, die Mitte des 19. Jahrhunderts unter Eugène Viollet-le-Duc ausgemalt wurden, werden unerhört bunt erscheinen.
Eine „Begegnung mit der Schönheit“ erhofft sich Olivier Ribadeau Dumas, der Rektor der Kathedrale, so hat er es bei einem letzten Hintergrund mit Journalisten wenige Tage vor der Eröffnung formuliert. Begegnung mit Schönheit heißt für ihn und „für uns Katholiken“, so Ribadeau Dumas, „Begegnung mit Gott, mit dem Zeugnis des christlichen Glaubens“. Der Erzbischof habe sich die Wiedereröffnung der Kathedrale nicht mit „Überhöhung und Arroganz, sondern mit Demut“ gewünscht, so der Rektor weiter. Es ist ein diplomatischer Satz, den man als Zusammenfassung der monatelangen Machtprobe zwischen Diözese und Elysée-Palast lesen kann. In Frankreich ist seit der Französischen Revolution der Staat Eigentümer der 87 Kathedralen des Landes, weshalb deren Instandhaltung seine Aufgabe ist.
Präsident Emmanuel Macron sieht die gelungene Renovierung in kürzester Zeit als seinen Verdienst an. Zum bislang tiefsten Punkt seiner zweiten Amtszeit und auf dem Höhepunkt der politischen Krise Frankreichs will er aus der Eröffnung eine „Erfolgsgeschichte“ machen, wie es aus dem Elysée-Palast hieß. Am liebsten hätte er deshalb auch in der Kathedrale gesprochen, aber nun wird er seine als kurz angekündigte Ansprache auf dem Vorplatz von Notre-Dame halten. Nach dem ersten weltlichen, dem religiösen Teil der Zeremonie wird dort vor der Kathedrale ein dritter „Kulturteil“ stattfinden, ein Konzert mit Weltstars. Ob Paul McCartney darunter ist, wollte und durfte am Vortag niemand bestätigen.
Sechs Monate Eröffnungsphase
Sicher ist, dass sich Frankreich und Macron auch selbst feiern wollen. Es ginge darum, den französischen Genie zu feiern oder, wie es Macron wenige Tage nach dem Brand formuliert hat, die „Kunst, französisch zu sein“, Art d’être français. Gemeint sei damit, dass jeder Franzose Teil einer Kulturgeschichte sei, eines „einzigartigen Geistes der Weitergabe, der Kreation, des sich in die Zukunft Projizierens, eines sehr besonderen Modus des In-der-Welt-Seins, der die Einzigartigkeit unserer Nation ausmacht“, wie es ein Präsidentenberater geschwollen formuliert.
Die Phase der Wiedereröffnung von Notre-Dame erstreckt sich über sechs Monate bis Pfingsten. Nach der weltlichen Eröffnungszeremonie am Samstagabend, bei der die Orgel gesegnet wird, folgt am zweiten Adventssonntag, dem katholischen Fest von Mariä Empfängnis, die Messe mit Segnung des Altars, an der 150 Bischöfe, aber auch Vertreter von katholischen Hilfsorganisationen, Obdachlose, Kranke, und Behinderte teilnehmen. Während der ersten Woche nach der Eröffnung wird Erzbischof Laurent jeden Tag um 10.30 Uhr eine Messe zelebrieren. Am Montag sind die Pariser Priester eingeladen, am Dienstag Schwestern und Mönche sowie engagierte Gemeindemitglieder, am Mittwoch Mäzene und Spender, am Sonntag sind die Feuerwehrleute an der Reihe, die im Einsatz waren.
In der Woche vor Weihnachten steht die Kathedrale wieder für alle von morgens bis abends offen, aber nur wenige Plätze sind spontanen Besuchern vorbehalten. Mit etwa 15 Millionen Besuchern pro Jahr wird gerechnet, das sind mehr als 40.000 am Tag. Um diesen Besucheransturm zu bewältigen, wird jedem geraten, sich auf der Webseite der Kathedrale oder über die offizielle Applikation der Diözese vorher kostenlos zu registrieren. Die Idee der französischen Kulturministerin Rachida Data, für Notre-Dame Eintritt zu nehmen, um die Restaurierung von Frankreichs Kirchen zu finanzieren, lehnt der Erzbischof ab. Man habe noch nie einen Unterschied zwischen Gläubigen, Pilgern und Besuchern gemacht. Eine Trennung würde jeden um die „gemeinsame Kommunion“ bringen, die „Sinn und Wesen dieses Ortes“ sei, und die Besucher daran hindern, „die globale Erfahrung dieses Bauwerks in seiner unendlichen Schönheit zu machen“.