Warum wird die Atomkraft in Europa aktuell so heftig debattiert?

Hintergrund des europäischen Streits um die Atomenergie ist die Taxonomie-Verordnung der Europäischen Union, die im Zuge des Klimaschutzpakets „Green Deal“ darauf abzielt, Investitionen in eine klimafreundliche und nachhaltige Richtung zu lenken. Dafür legt die Europäische Kommission Kriterien fest, nach denen Technologien als umweltfreundlich gelten und etwa durch die EU gefördert werden können. Dazu gehören beispielsweise Technologien, die den Klimawandel abschwächen oder zur Anpassung beitragen, etwa erneuerbare Energien.

Bisher ging es um die Frage, ob Atomkraft den Nachhaltigkeitskriterien der Taxonomie-Regulierung genügt. Jetzt wurde von der Kommission entschieden: Die Atomkraft soll in Europa als „saubere“ und „grüne“ Energiequelle klassifiziert werden.

Was bedeutet diese Klassifikation genau?

Konkret sieht der Entwurf der EU-Kommission vor, dass Investitionen in neue AKW als grün klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neusten technischen Standards entsprechen und wenn ein konkreter Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorgelegt wird. Zudem ist als eine weitere Bedingung vorgesehen, dass die neuen kerntechnischen Anlagen bis 2045 eine Baugenehmigung erhalten.

Wie steht Österreich zur Entscheidung der EU-Kommission?

Für Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) ist der Entwurf der EU-Kommission „nicht akzeptabel“. Für den Fall, dass die Kommission die Pläne tatsächlich so umsetzt, kündigte die Ministerin einmal mehr an, auf Basis eines Rechtsgutachtens „den Klagsweg zu beschreiten“.

Gewessler betonte, dass das Einstufungsschema (Taxonomie) von Energieformen durch Brüssel als Label für Finanzprodukte wie Investmentfonds diene. Der Finanzmarkt spiele eine große Rolle bei der Umleitung von Geldströmen hin zu mit Sicherheit umwelt- und klimaschützenden Technologien. Daher brauche es ein glaubwürdiges Label, auf das sich Anleger verlassen können: „Grün“ dürfe nur auf Finanzprodukten stehen, wo auch Grün drin sei.

Wie ist die Stimmung in anderen Ländern EU-Mitgliedsstaaten?

Um die selbst gesteckten Klimaziele zu erreichen, befürwortet mittlerweile die Mehrheit der EU-Staaten die Einstufung der Atomkraft als CO2-arme, grüne Energie und damit die Förderung moderner Atomkraftwerke in Europa. Als treibende Kraft der Atomkraftbefürworter gilt Frankreich. Das Land deckt 70 Prozent seines Energiebedarfs durch Atomenergie. Klare Anhänger der Kernkraft sind außerdem Österreichs östliche Nachbarstaaten Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Slowenien sowie Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Finnland. Die Staaten argumentieren mit der Notwendigkeit von Atomenergie als leistbare, stabile und unabhängige Energiequelle, die zudem noch CO2-neutral sei.

Österreich, das seit Jahren als einer der größten Gegner der Kernkraft in Europa gilt, hat in seinem schwierigen Kampf wenig Rückenwind. Viel mehr wächst die Zahl der Länder, die in AKWs die Zukunft sehen. Gegen die Pläne der EU-Kommission eingesetzt haben sich neben Österreich lediglich noch Deutschland, Spanien, Portugal, Dänemark und Luxemburg – ohne Erfolg, wie die in der Silvesternacht bekannt gewordenen Pläne zeigen.

Wo in Europa wird aktuell Atomstrom produziert?

Insgesamt setzten derzeit 14 der 27 EU-Staaten auf Atomkraft. Gemeinsam produzieren die insgesamt rund 110 Reaktoren in Betrieb in der EU 765.337 Gigawattstunden und damit 26 Prozent der gesamten produzierten Elektrizität. Neubauprojekte für Atommeiler gibt es derzeit in Bulgarien, Finnland, Frankreich, Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. 

... und wo könnten schon bald neue AKWs gebaut werden?

Als 15. Land plant Polen den Einstieg in die Atomkraft bis 2025. Deutschland und Belgien haben an und für sich den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, allerdings wanken die Pläne in Belgien mittlerweile wieder. Politiker im flämischen wie französischsprachigen Teil Belgiens stellen den geplanten Ausstiegstermin infrage und begründen dies mit dem Klimaschutz.

Auch in Italien, das 1987 ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl aus der Kernkraft ausgestiegen ist, fordern Rechtsparteien einen Wiedereinstieg. Allerdings erteilten die Italiener demselben Ansinnen erst 2011 in einem Referendum eine Absage.

Kann man das europäische Comeback der Atomkraft noch verhindern?

Um das Vorhaben der EU-Kommission noch aufzuhalten, bräuchte es eine qualifizierte Mehrheit von 20 der 27 Mitgliedstaaten, die zudem für 65 Prozent der EU-Einwohner stehen. Diese ist derzeit nicht in Sicht. Auch im EU-Parlament, wo eine einfache Mehrheit für ein Veto reichen würde, ist eine solche nicht absehbar.