Die Schlacht um Stalingrad wird auch als „Mythos Stalingrad“ bezeichnet. Was macht denn diesen Mythos aus?
BARBARA STELZL-MARX: Es ist die bekannteste Schlacht des Zweiten Weltkriegs und steht oft für die Wende in diesem Krieg. Tatsächlich war es mehr eine psychologische Trendwende als ein eine militärische. Denn militärisch hatte sich das Blatt schon im Jahr davor vor Moskau gedreht. Stalingrad steht auf beiden Seiten – man muss hier natürlich auch an die sowjetische denken – für das Grauen dieses Weltkrieges schlechthin, was sich auch durch Literatur, wie Erinnerungsberichte und Romane oder durch Filme, in die Erinnerung eingebrannt hat.

© Ballguide/Richard Großschädl

Adolf Hitler verweigerte seinen Truppen in Stalingrad den Ausbruch und ließ sie elendiglich untergehen. Steht Stalingrad als großes Beispiel dafür, dass dem Nazi-Regime jedes Mitgefühl für Menschen fehlte?
Absolut. Es steht für zwei totalitäre Regime, zwei Diktatoren, die aufeinander geprallt sind, Adolf Hitler und Josef Stalin. Einmal die deutsche Seite, wo Hitler den Befehl gab, nicht zu kapitulieren, obwohl schon klar war, dass die Durchhaltebefehle nicht den gewünschten Erfolg bringen würden, und unvorstellbare Zahlen an Menschen geopfert wurden: Soldaten auf beiden Seiten, aber auch die sowjetische Zivilbevölkerung. Auf der anderen Seite Stalin, der ebenfalls in Stalingrad den Befehl zum Durchhalten gegeben hatte. Mit eigenen Erschießungskommandos im Rücken wurde die Roten Armee in den Kampf getrieben. Stalingrad war nicht nur wegen seiner militärisch-strategischen Lage an der Wolga, als Tor zum Kaukasus, umkämpft, sondern auch als Symbol aufgrund seines Namens. Deshalb haben Hitler und Stalin ohne Rücksicht auf Verluste Durchhalteparolen ausgegeben. Das individuelle Menschenleben spielte keine Rolle. Ein Ausdruck dafür, wie menschenverachtend beide totalitären Systeme waren.

In der 6. Armee der Deutschen befanden sich viele Österreicher oder Ostmärker, wie sie damals hießen. Wie weit ist Stalingrad noch in der Erinnerung der österreichischen Gesellschaft?
Es gab einen hohen Anteil an Österreichern in Stalingrad, rund 50.000 haben dort gekämpft. Unter den insgesamt rund 6000 Heimkehrern, die in Stalingrad in Kriegsgefangenschaft geraten waren, befanden sich etwa 1000 Österreicher. In Österreich ist, glaube ich, Stalingrad fixer Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, es ist über die Generationen hinweg tradiert worden, vielfach auch im Familiengedächtnis, weil viele Familien Angehörige in Stalingrad verloren haben. Wir haben, seitdem wir am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung Zugang zu den Akten der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion bekamen, tausende Anfragen erhalten. Allein vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad, langten mehr als 500 Anfragen am Institut ein. Auch heute noch erhalten wir zu den Kriegsgefangenen und Vermissten in der Sowjetunion durchschnittlich eine Anfrage pro Woche. Die Fragen kommen inzwischen von der Enkelgeneration zu Akten von Großvätern, die in sowjetischer Kriegsgefangenenschaft waren oder vermisst sind. Das Interesse an Stalingrad geht über Generationen hinweg, und ist über unterschiedliche Vermittlungsformen wie Filme und Bücher, verankert.

In welcher Form verankert: als Verbrechen, Soldaten dort ihrem grauenvollen Schicksal zu überlassen zu lassen oder als Beispiel für Heldenmut?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur von deutscher beziehungsweise österreichischer und ehemals sowjetischer Seite. Wenn man konkret über Österreich spricht: Hier sieht man Stalingrad vorwiegend als Symbol für unvorstellbares Elend. Es kommen Bilder hoch von den verhungerten, den erfrorenen Wehrmachtssoldaten. Dabei steht ein Helden- und Opfer-Mythos im Vordergrund, während an die von deutscher Seite verübten Verbrechen an sowjetischen Soldaten und der Zivilbevölkerung in Stalingrad kaum erinnert wird. Die Erzählung entspricht mehr einer klassischen Tragödie, die sich über Jahrzehnte gehalten hat, dieses Nibelungendrama ...

... eine verklärende Erinnerung?
Kann man so sagen, die klassische Tragödie von Eis und Schnee. Und anders als die Erinnerung an Stalingrad von ehemals sowjetischer Seite.

Die Propagandisten des „Dritten Reichs“ rankten um die Toten von Stalingrad eine Heldenverehrung: ein nochmaliger Missbrauch dieser Opfer, die an der Wolga zur Schlachtbank gezwungen worden waren?
Es sind dies typische Kennzeichen totalitärer Regime: Menschenleben haben keinen Wert, Brutalität setzt sich über das Menschliche hinweg, für die Ideologie und Verherrlichung des jeweiligen Führers wird alles geopfert. Dazu kommt die große Rolle der Propaganda, das Verbot von Pressefreiheit. Kritik am militärischen Vorgehen darf nicht geübt werden. All dies spielte eine ganz große Rolle in den jeweiligen Erzählungen.

Die letzten Zeitzeugen gehen von uns, es gibt kaum noch jemanden der darüber aus eigener Wahrnehmung erzählen kann. Eröffnet das nicht die Möglichkeit, die Geschichte umzuschreiben?
Das ist ein Thema, das viele Bereiche betrifft. Der Verlust von Zeitzeugen, die unmittelbar aus eigenem Erleben, aus eigener Erinnerung berichten können, ist durch nichts zu ersetzen, weil die Weitergabe der persönlichen Betroffenheit fehlt. Umso wichtiger aber werden andere Formen der Vermittlung von Geschichte, um das Bewusstsein zu stärken, besonders bei der jüngeren Generation, für die diese Ereignisse ganz weit weg sind. Sie brauchen Werkzeuge, um zwischen tatsächlich Geschehenem und Fake News unterscheiden zu können.