Sonderlich verheißungsvoll klingt der Begriff „Weimarer Republik“ ja nicht gerade. Fast könnte er als geheimes Passwort für einen Nachtclub durchgehen. Wobei, so ganz verkehrt ist es nicht, denn Türen hat diese Weimarer Republik, die am 9. November 1918 ausgerufen wurde, viele geöffnet: den wiedererweckten Lebensgeistern nach dem Horror des Ersten Weltkriegs, den Hoffnungen und Träumen auf eine friedvolle Zukunft, aber auch jenen, die die Türen rund fünfzehn Jahre später mit einem Knall zugeschlagen haben, der die Welt nachhaltig erschüttert und geprägt hat - Adolf Hitler und den Nationalsozialisten.

Zwischen diesen dunklen Polen lebte die Großstadt Berlin auf - und wie: Die über vier Millionen Einwohner waren wie ein kräftiger Motor, der in regelmäßigen Abständen zündete. Mit der 16-teiligen Serie „Babylon Berlin“ setzen derzeit die TV-Sender Sky (dort zu sehen) und ARD diesem Großstadtmythos ein Denkmal. Doch eben jener Mythos, der unser Bild der Stadt bis heute prägt, hat sich nicht von allein geschaffen, wie der Berliner Publizist und Literaturwissenschaftler Michael Bienertdie Ausgangslage skizziert: „Berlin war damals wirklich ramponiert, weil zwischen 1914 und 1924 nichts gebaut und nichts repariert worden ist. Sie hatten Krieg, dann die Revolution, dann die Inflation - im Grunde genommen verfällt die Infrastruktur der Stadt zehn Jahre lang. Dann gibt es diesen Aufschwung und es wird eine ganze Menge gemacht.“

Ein Klima der Erneuerung entsteht, das sich so ganz anders anfühlt als die Zeit davor, als Kaiser Wilhelm II. ein strenges Regiment führt und der Gesellschaft ein enges Korsett verpasst: patriarchalisch und konservativ. Die Gesellschaft, die Menschen, alles hatte seine Ordnung zu haben. Dieses Korsett, es fällt nach dem Krieg schnell. Und auch sonst lässt man gerne Hüllen und Hemmungen fallen. Theater, Kinos und Vergnügungstempel strahlen dank fortschreitender Elektrifizierung hell und überstrahlen bisweilen die Realität in den dunklen Gassen: Armut, Kriminalität, eine zum Teil traumatisierte Gesellschaft in Folge des Ersten Weltkriegs. Doch dieses Bild wollte man nicht nach außen tragen, so Bienert: „Die politisch Verantwortlichen wollten zeigen, dass eine neue Zeit angebrochen ist, dass man es mit einer neuen Hauptstadt zu tun hat. Eine Opposition zu dieser kaiserzeitlichen, säbelrasselnden Reichshauptstadt, die den Weltkrieg verloren hat. Diese Strategie der Selbstdarstellung - dazu gehörte auch das Verruchte und das Nachtleben - war ziemlich erfolgreich.“

Berlin-Kenner Michael Bienert
Berlin-Kenner Michael Bienert © Leon Buchholz

Und es funktionierte wie das Marktschreierprinzip: Das lautstarke Bild lockte die Massen an, nicht nur, aber auch weil die Stadt damals besonders liberal war - auch in sexueller Hinsicht. Man wollte Berlin sehen und auch gesehen werden. Die Liste jener Künstler, die zur damaligen Zeit ihre Spuren hinterlassen haben, ist legendär: von Joseph Roth über Otto Dix, Käthe Kollwitz und Fritz Lang bis hin zu Bertolt Brecht. Diese ungemeine Produktivität hängt auch mit den Umständen der Zeit zusammen, wie „Berlinologe“ Bienert die Stimmung von damals umreißt: „Nach dem Ersten Weltkrieg herrscht ein sehr unsicheres Lebensgefühl, das sich aber durchaus positiv auswirkt, weil viele Künstler bei der Verarbeitung den alten Formen den Rücken kehren.“

Walther Ruttmann fing mit seinem Stummfilm "Symphonie einer Großstadt" die Metropole ein:

Innovationen gab es fast flächendeckend in allen Künsten: Architektur, bildende Kunst, Literatur, Film bis hin zum Tanz, wie Bienert zusammenfasst: „Es sitzen viele Hochbegabte an einem Fleck, die wirklich auf allen Gebieten hervorragende Dinge hervorbringen - von den Großstadtfilmen bis hin zur Großstadtliteratur.“ Doch in einem Punkt dimmt er den Glanz der Goldenen Zwanziger: Der Humus, auf dem die Fortschritte von damals basierten, wurde schon in der Zeit davor angehäuft. Denn alles, was einen entscheidenden Beitrag zum Funktionieren dieser Großstadt beigetragen hat, darunter U-Bahn, Verkehrssysteme und Kanalisation, sei schon vor dem Jahr 1914 entstanden. Relativ früh dran waren auch die Mahner, die dieser Weimarer Republik schon vorzeitig den Marsch geblasen haben. Darunter Friedrich Hollaender mit seinem Totentanz „Fox macabre“ im Jahr 1920:
Berlin, dein Tänzer ist der Tod! Berlin, halt ein, du bist in Not! Von Streik zu Streik, von Nepp zu Nepp, bei Mord und Nackttanz und beim Step, du musst dich amüsieren ohne Unterlass! Berlin, dein Tänzer ist der Tod!

Marlene Dietrich als der Blaue Engel
Marlene Dietrich als der Blaue Engel © APA

Ein weiterer Chronist, der das damalige Treiben minutiös unter die Lupe nahm, war Harry Graf Kessler, Kunstsammler, Publizist, Mäzen, Flaneur, Salonlöwe. Nur drei Monate nach der Ausrufung der Weimarer Republik notierte er: „Bis jetzt wäre die Bezeichnung die treffendste: der Tanz auf dem Vulkan“. Letzterer Satz ist noch heute die beliebteste Zustandsbeschreibung für das Berlin der 1920er-Jahre. Angesichts dessen, was danach noch kam - die Machtergreifung der Nazis 1933 - lesen sich solche Passagen wie düstere Prophezeiungen, die das Licht auf den Bühnen und Tanzflächen nur noch heller, noch greller erscheinen lassen.

Berlin hat diese dunklen Zeiten überwunden, aber der Mythos hat sich in die DNA der Stadt eingeschrieben. Es ist ein „Leitbild“, wie es Berlin-Experte Michael Bienert beschreibt. Ein Bild, das den Berlinern vor allem auch nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 ein Vorbild war: „Die Stadt war durch die Teilung von vielen Erfahrungen abgeschnitten, die in den 1920er-Jahren ganz selbstverständlich waren. Dann fiel die Mauer und alle mussten sich neu orientieren. Damals hat die Literatur über die Zwanzigerjahre einen großen Rezeptionsschub erfahren.“  Mit der Lust am Feiern hat sich die Stadt Berlin schon mehrfach neu erfunden. Ein Rezept, das man so manch anderer Stadt mit wärmster Empfehlung ans Herz legen kann.

"Die Zwanziger Jahre in Berlin" von Michael Bienert und Elke Linda Buchholz