Frau Degot, Sie stellen in Ihrem kuratorischen Konzept den steirischen herbst 2019 unter das Motto „Grand Hotel Abgrund“. Klingt nach Ausgelassenheit im Angesicht der Apokalypse.
EKATERINA DEGOT: Nein, so schwarzseherisch sind wir nicht. Ich habe ein anderes Bild: von einem großen Haus in den Bergen, von einem interessanten Ort voller Spannungen. Einen Abgrund vor Augen zu haben kann ja auch reizvoll sein.

„Grand Hotel Abgrund“ geht auf den aus Ungarn stammenden marxistischen Philosophen Georg Lukács zurück. Der beschrieb 1954 Europas intellektuelle Nachkriegsszene als „Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit“ in dem die gefühlte Gefahr den Komfort noch erhöht. Wie schlagen Sie mit diesem Zitat aus dem Kalten Krieg den Bogen zur Steiermark 2019?
Das Zitat war der Ausgangspunkt, um uns mit dem Hedonismus von heute zu beschäftigen, mit der Über-Wellness, der Konzentration auf den Genuss. Die Steiermark versteht sich als Genussregion, gleichzeitig galt Graz historisch als Bollwerksstadt – man kann daraus ableiten, dass nicht jeder ein Recht auf die gebotenen Genüsse hat. Diese Konzentration auf das kulinarische oder auch: auf das kulturelle Erbe trägt ja in vielen Ländern etwas Kryptonationalistisches in sich.

Genuss ist verdächtig?
Uns ist alles verdächtig (lacht). Im Ernst: Es ist die Aufgabe der Kunst, alles kritisch zu betrachten – inklusive unserer eigenen Positionen. Ein solcher Zugang ist nicht negativ, sondern reflexiv. Wir fragen uns: Was ist Genuss? Wie funktioniert er als Element der zeitgenössischen Kultur? Wer hat ein Anrecht auf Genuss? Wie schafft Genuss Grenzen zwischen denen mit Geld und Anspruch und denen, die an der Herstellung der Genussprodukte arbeiten?

Im Großen und Ganzen geht es um die Überflussgesellschaft?
In gewissem Sinne. Aber wir sind nicht dazu da, die Askese zu propagieren. Uns interessiert etwa, wie in einer genussorientierten Gesellschaft der Konsum von Kunst und Kultur funktioniert.

„Volksfronten“, Ihr erstes herbst-Programm 2018, war sehr auf bildende Kunst fokussiert. Wird das heuer wieder so?
Ich würde sagen, das Programm war interdisziplinär. Einen installativen Parcours durch Graz werden wir auch heuer haben, dazu gehören aber auch filmische Komponenten und Performances. Manches kommt aus der Literatur. Und es wird auf jeden Fall mehr Bühnenproduktionen geben, wir haben etwa ein Stück beauftragt, das im Hotel Wiesler spielt.

Bei wem?
Wir bitten etwa 30 internationale Künstlerinnenund Künstler darum, mit uns neue Arbeiten zu entwickeln. Die stellen wir im Juni vor, ich bitte um Geduld, wenn ich darüber noch nicht viel sage. Artur (Z)mijewski wird sich in einer Installation mit der Apokalypse befassen, Michael Portnoy setzt sich in einer monumentalen Videoinstallation in der Helmut-List-Halle mit Sex in der Zukunft auseinander. Das Programm ist breit, da ist noch viel in Bewegung, fast wie auf der Achterbahn. Ich kann Ihnen verraten, dass wir mit dem Literaturhaus eine Installation zu Lukács planen. Das ist nicht so langweilig, wie es klingt – Lukács hatte ein sehr abenteuerliches Leben. Er sagte einmal, er habe in seinem ganzen Leben keine einzige Grenze legal überschritten. Wir bauen ihm im Literaturhaus eine semi-fiktive Biografie.

Sind Grenzen insgesamt ein Thema in diesem herbst?
Nicht nur im von mir kuratierten Programm, sondern auch
im Parallelprogramm etwa des Pavelhauses in Laafeld. Die Grenze selbst interessiert mich sehr, aber es hat dazu im steirischen herbst ja schon viele Projekte gegeben.

Stimmt es, dass es neue Festivalpartner jenseits von Graz gibt?
Wir kooperieren heuer erstmals mit dem Stubenrein Festival in Murau, einem sehr diskursiven, politisch orientierten Verein, den ich sehr interessant finde. Und wir haben erstmals die Prenninger Gespräche im Parallelprogramm.

Ihr erstes Festival 2018 wurde mit viel Wohlwollen aufgenommen. Wo muss man aus Ihrer Sicht 2019 nachjustieren?
Ich will auf jeden Fall noch spätabends essen können. Das hat mir persönlich in der herbst-Bar gefehlt. Wir werden uns im Programm nicht so stark auf das erste Wochenende konzentrieren, sondern die vier Wochen kontinuierlicher bespielen. Außerdem gibt es heuer mehr Programm in der Steiermark. Und nein, ich sage noch nicht, was genau, aber die Apfelstraße interessiert uns sehr.