Seine Romane, die meist seine schmerzhafte Autobiografie in sich tragen, sind eine grandiose Zumutung, die an die Grenzen des Sagbaren und Erträglichen gehen. In seinem Debütroman „Das Ende von Eddy“ hat Édouard Louis, geboren als Eddy Bellegueule in der nordfranzösischen Provinz, die aggressionspralle Atmosphäre von Armut, Homophobie, Mobbing und systemischer Gewalt zu Literatur gemacht und sich damit einen Status als Shooting-Star erschrieben. Und immer wieder fokussiert Louis auf die eigene Familie als Keimzelle und Nährboden für Deformationen aller Art. In seinem wütenden und ergreifenden Essay „Wer hat meinen Vater umgebracht“ (2019) beschreibt er eine Beziehung, die sich von schweigender Verachtung auf beiden Seiten zu gegenseitigem Verständnis und sogar vorsichtiger später Liebe entwickelt.

Sein neues Buch „Die Freiheit einer Frau“ ist eine so schonungslose wie liebevolle Hommage an die Mutter. Ein schmales Werk von großer, erschütternder Wirkkraft und mit einem Generalthema, das Mutter und Sohn verbindet: Bei beiden geht es um Befreiung, um den Ausbruch aus einem Leben, das nur physische und psychische Auslöschung bereithält.
Ausgangspunkt ist ein Foto der Mutter, das dem Sohn zufällig in die Hände gerät. Es zeigt eine junge Frau, lächelnd, verführerisch, das Gesicht trägt unendlich viele Möglichkeiten in sich, vielleicht sogar Freiheit und Glück.

Dann kam das Leben dazwischen, und es beinhaltete Kinder, zwei Ehen, gewalttätige Männer, Einkaufen im Sozialmarkt – aber weder Freiheit noch Glück. Die lächelnde Frau verstummte, der Sohn schämte sich ihrer. An einer Stelle zitiert Édouard Louis aus „Wunschloses Unglück“ von Peter Handke und zieht trotz geografischer und zeitlicher Unterschiede Parallelen zwischen den beiden Frauenleben. Die Annäherung zwischen Mutter und Sohn passiert just über die Trennung. Die Frau bringt den Mut und die Kraft auf, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und in Paris ein neues zu beginnen. „Unsere Annäherung hat nicht nur die Zukunft meiner Mutter verändert, sie hat auch unsere Vergangenheit transformiert“, schreibt Louis. Und am Ende sieht man wieder Freiheit und Glück im Gesicht der Mutter – zumindest Spuren davon.