Der Auftritt am Freitagmittag war eilig anberaumt. „Es geht für mich im Kern darum, Mitverantwortung zu übernehmen“, sagte Reinhard Kardinal Marx vor dem wuchtigen Portal seines Bischofshauses. Der Erzbischof von München und Freising hatte Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten. Am Vormittag hatte das Erzbistum Details seines dreiseitigen Rücktrittsgesuchs veröffentlicht. Und das hatte es in sich: Die katholische Kirche sei an einem „toten Punkt“, formulierten der Kardinal und enge Vertraute des Papstes.

Marx, 67, zog mit seinem Schritt die Konsequenzen aus der Aufarbeitung der Missbrauchsaffäre durch die katholische Kirche in Deutschland. „Ich will zeigen, dass nicht das Amt im Vordergrund steht, sondern der Auftrag des Evangeliums“, heißt es in dem Schreiben, das bereits im Mai nach Rom überstellt worden war.

Das Rücktrittsgesuch des Kardinals ist eine Überraschung. Marx hatte die Leitung des Erzbistums München-Freising 2008 übernommen, 2010 hatte ihn Papst Benedikt zum Kardinal ernannt, 2014 übernahm Marx die Leitung der Deutschen Bischofskonferenz, die er im vergangenen Jahr abgab. Schon da deutete sich ein leises Zweifeln an. Marx hatte die so genannte MHG-Studie zur sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche in Deutschland in Auftrag gegeben. Bei der Vorlage der Studie 2018 hatte ihn eine Journalistin des Deutschlandfunks gefragt, ob es im Kreis der Amtsbrüder erste Rücktrittsgesuche gebe? „Nein“, musste Marx damals antworten. Der sonst so Wortgewaltige wirkte dabei sehr kleinlaut.

Die Frage nach persönlichen Konsequenzen habe ihn seither bewegt, sagte Marx am Freitag. An Ostern habe er sich zu seinem Gesuch nach Rom entschlossen. „Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“, so Marx. Es geht nicht nur um ihn, es geht um die Kirche.

Ereignisse der „jüngeren Zeit“ spielten keine Rolle, schob Marx hinterher. In der jüngeren Zeit, im April, hatte der Kardinal nach Kritik von der Kirchenbasis auf die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes verzichten müssen. Aus dem Bistum Trier, wo Marx vor seiner Zeit in München gewirkt hatte, wird ihm in mindestens einem Fall Fehlverhalten vorgeworfen. Sein Entschluss kann auch als persönliches Schuldbekenntnis gewertet werden.

„Klerikalismus“ und „Männerbünde“

Marx ging immer forsch zu Werk. 2002, im Alter von 48 Jahren, war er in Trier zum jüngsten Bischof in Deutschland aufgestiegen. Der füllige Theologe gab sich leutselig. Rauchte öffentlich Zigarre und trat für die katholische Soziallehre ein, ehe andere sie nach der Finanzkrise und Pandemie entdeckten. „Die katholische Soziallehre gehört zum Evangelium“, so Marx. Papst Franziskus suchte seinen Rat, anderen war seine stete Medienpräsenz suspekt. Zum Schluss stand Marx zwischen vielen Fronten: Der Basis kam der Synodale Weg zur Aufarbeitung der Missbrauchsskandal und Reformen nicht rasch genug voran, den Konservativen im Klerus ging das alles zu weit.

Am Freitag holte Marx noch einmal aus und verband seinen Abgang mit einer Anklage. Von „Klerikalismus“ und „Männerbünden“ sprach der Kardinal und erklärte, „dass manche in der Kirche gerade das Element der Mitverantwortung nicht wahrhaben wollen“. Eine mehr oder weniger offene Kritik am Kölner Erzbistum Rainer Maria Woelki. Der war zuletzt wegen seines Umgangs mit Missbrauchsfällen in seiner Zuständigkeit kritisiert worden. Eine Pfarrgemeinde in Düsseldorf hatte den Diözesanchef sogar von der Firmung ausgeladen. Das war der Aufstand der Basis. Auch der Vatikan reagierte: Papst Franziskus entsandte den Stockholmer Kardinal Anders Arborelius und den Rotterdamer Bischof Hans van den Hende als Visitatoren an den Rhein. Rom ermittelt. Die Basis brodelt.

Als Reaktion auf die Missbrauchsfälle hatten in Deutschland bisher nur der Hamburger Erzbischof Stefan Heße und der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp ein Rücktrittsgesuch eingereicht. Marx verknüpfte mit seinem Wort vom „toten Punkt“ nun eine heftige Kritik an der Institution Kirche. „Die Fixierung auf die Amtsträger ist zu wenig, es geht auch um die Versäumnisse der Institution Kirche.“ Deftige Worte zum Abschied.

"Da geht der Falsche"

Die Reaktion auf den Schritt des Kardinals fielen gespalten aus. „Da geht der Falsche“, sagte Thomas Sternberg, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.  Matthias Katsch, Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, zollte Respekt. Marx habe „verstanden, dass diejenigen, die den Karren in den Dreck gezogen haben, ihn nicht zugleich wieder herausziehen können“.

Marx‘ Vorgehen war mit dem Vatikan abgestimmt. Eine offizielle Erklärung aus Rom gab es nicht. Aber eine inoffizielle. Von einem „außerordentlich wichtigen Zeichen“ sprach Hans Zollner. Der Jesuitenpater ist Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission, er fügte hinzu: Das Münchner Beispiel zeige, „die Botschaft und die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Amtsträger wichtiger sind als die persönliche Stellung“. Das lässt sich auch so deuten: Marx Abgang dürfte nicht der einzige bleiben.

Längst geht es in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandal nicht mehr nur um Personen, es geht um die Zukunft der Kirche. Das kräftige Wort des „toten Punkts“ gehe zurück auf den Jesuitenpater Alfred Delp, erklärte Marx. Zur Erläuterung: Delp ist ein Mann des Widerstands der 30er-Jahre. Eine gewagte Umdeutung des eigenen Fehlverhaltens als Rebellion gegen verkrustete Strukturen.

Marx selbst wirkte mit sich im Reinen. „Der tote Punkt kann auch ein Wendepunkt sein“, sagte er bei seiner Pressekonferenz in München. „Ich glaube fest, an eine neue Epoche des Christentums. Aber das wird nur geschehen, wenn die Kirche sich erneuert“, sagte Marx und fügte hinzu: „Ich bin nicht amtsmüde. Ich bin nicht demotiviert.“ Für manch einen in der katholischen Kirche Deutschlands dürfte das wie eine Drohung geklungen haben.