Es ist ein bisschen so, als hätten sie das letzte Einhorn gesehen. Galant, wie es sich gehört, lässt man Fußgängern am Zebrastreifen den Vortritt, aber die rühren sich nicht. Sie bleiben wie erstarrt stehen, staunen und starren auf die „Spirit of Ecstasy“, die ikonische Figur, die auf dem Kühlergrill aus handpoliertem Edelstahl thront. Eine typische Reaktion, wenn man einem Rolls-Royce leibhaftig gegenüber steht. Und vor allem bei diesem serienmäßig ab Werk dabei.

Der 18. Februar 2015 war ein denkwürdiger Tag in der mehr als hundertjährigen Geschichte von Rolls-Royce. CEO Torsten Müller-Ötvös wandte sich in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit, beschwor darin die DNA der Produkte, den Anspruch, die besten Autos der Welt zu bauen, auf sich ändernde Kundenansprüche – kurz: Auf die feine englische Art teilte die Marke ihren Kunden mit, dass sie gedenkt, ein SUV zu bauen. Auch wenn sie dieses Wort meiden wie der Teufel das Weihwasser und stattdessen von einem All-Terrain-High-Bodied-Car sprechen. Jedenfalls: Kunden auf der ganzen Welt hätten darum gebeten – aber die Controller werden wohl auch beigepflichtet haben, in das Boom-Segment einzusteigen.

Wie auch immer, hier ist er jetzt, der Cullinan. Benannt nach dem größten jemals gefundenen Diamanten der Welt, der zu den britischen Kronjuwelen gehört, ist das Ober-SUV also angetreten, den Luxus der Limousinen luftgefedert bis in den entlegensten Winkel der Welt zu tragen, zu dem jetzt nicht mehr zwingend eine Straße führen muss. Und zwar mit der „Everywhere-Taste“. Typisch britisches Understatement analog zu Rolls-Royces einstigen lapidaren Leistungsangaben „sufficient“ (ausreichend). Andere mögen ihre Fahrer mit den unterschiedlichsten Modi belästigen, im Cullinan genügt ein kurzes Antippen, um die volle Bandbreite der Offroad-Fähigkeiten zu aktivieren.

Schotter, Schnee und Schlaglöcher sind Unbill, von dem einen der 5,3 Meter lange Hüne souverän abschirmt. Mit einer Wattiefe von 540 Millimetern kann man auch problemlos so manche Furt durchqueren. Im Innenraum könnte man derweil eine Stecknadel auf die Lammfellteppiche fallen hören. Am lautesten ist das Ticken der anlogen Uhr in der ansonsten digitalisierten Instrumententafel. Der V12 mit 6,75 Litern Hubraum, zwei Turboladern und 571 PS versieht wie ein perfekter Butler seinen Dienst: Immer zur Stelle, aber niemals aufdringlich. Erstaunlich ist, wie spielend einfach und leichtfüßig sich der 2,7 Tonner durch den Stadtverkehr dirigieren lässt. Dafür bürgt die Allradlenkung.

Eine Palastrevolution spielt sich am Heck ab: Zum ersten Mal in der 112-jährigen Firmengeschichte hat ein Rolls-Royce mit Standard-Karosserie eine Heckklappe. Oder vielmehr „The Clasp“, wie sie die Briten lieber nennen. Eine Premiere ist auch, dass die Rücksitzlehnen umgeklappt werden können – selbstverständlich elektrisch – auf Knopfdruck und im Verhältnis 1/3 zu 2/3 teilbar. Der Kofferraum fasst 560 Liter, ohne Heckablage sogar 600 Liter. Sind beide Rücksitzlehnen umgelegt, misst die Ladelänge 2245 Millimeter, während das Gesamtvolumen auf 1886 Liter wächst. Hilfreich beim Beladen ist auch, dass der Kofferraumboden auf Knopfdruck elektronisch angehoben werden kann. Die Kopfstützen werden beim Umklappen nach oben bewegt, um einen Abdruck auf dem Sitzkissen zu vermeiden. Und: Eine Glaswand trennt die Passagierkabine vom Gepäckraum und schafft ein abgeschlossenes System für die Insassen. Das wäre sonst wirklich nicht standesgemäß …

Im Fahrzeugheck gibt es eine obere Luke mit motorisierter Schublade, das sogenannte „Recreation Module“. Dafür bietet Rolls-Royce maßgeschneiderte Einsätze an – beispielsweise für Drohnen, Fliegenfischen, Fotografieren, Paragliding, Kitesurfen oder was immer der Kunde wünscht. Für andere Situationen empfiehlt sich indes die exklusive „Viewing Suite“: Auf Knopfdruck treten aus dem Kofferraum zwei nach hinten gerichtete Ledersitze mitsamt Cocktailtisch hervor. Die picknickverliebte Aristokratie wird „amused“ sein.

Nur damit jetzt nicht der Eindruck entsteht, Rolls-Royce hätte beim Cullinan Luxus gegen Praktikabilität getauscht: Entscheiden sich die Kunden für die beiden leicht zueinander gewandten Einzelsitze im Fond, sind diese durch eine feste Konsole getrennt, in die ein Getränkeschrank mit Whiskygläsern und Karaffe, Sektgläsern und Kühler integriert ist. Auf Knopfdruck steht ihnen ein ausfahrbarer Picknicktisch zur Verfügung sowie zeitgemäße Infotainmenttechnik mit Touchscreens.

Für müheloses Einsteigen durch die gegenläufig öffnenden Türen senkt sich das Fahrzeug automatisch um 40 Millimeter ab. Sie öffnen übrigens per Tastendruck selbsttätig. Innovativ ist auch der Ausstieg: Selbst wenn der Cullinan Matsch oder Schnee durchquert hat, können seine Passagiere bequem aussteigen – ohne sich schmutzig zu machen. Die vorderen und hinteren Fahrzeugtüren greifen weit in den Schweller hinein und sorgen dafür, dass Schmutz von außen gar nicht erst die Türschwelle erreicht.

Mehr zum Thema