Mein persönlicher Lockdown beschränkt meine Bewegungsfreiheit radikal. Auf der rechten Seite meines Bettes steht ein Nachtkästchen, auf der linken ein Paravent, ein Infusionsständer und das Nachtkästchen meines Zimmerkollegen. Die Fenster im Isolationszimmer der onkologischen Station lassen sich nicht öffnen. Bedrückende Enge. Mein Nachbar liegt seit Wochen Tag und Nacht bewegungslos und beinahe komatös in seinem Bett. Erst seit einigen Tagen begrüßt er mich mit „Kollega“ und brabbelt dann auf Rumänisch weiter. Da ich seiner Muttersprache aber nicht mächtig bin, bleibt die Kommunikation einseitig. Das Einzige, was ich für ihn tun kann, ist eine Schwester über eine Notglocke zu rufen, wenn er stöhnt und nach Luft ringt.

Wolfgang Sotill
Wolfgang Sotill © Sotill

Dennoch stellt nicht der Platzmangel, sondern die nicht verrinnen wollende Zeit die größte Herausforderung der letzten sechs Wochen dar. Das Anhören von Podcasts sowie die Musik von Beethoven bis zu Klängen aus der Sahara verkürzen den Tag, wenn auch nur bedingt. Und wie oft habe ich schon den Osterhasen, den eine freundliche Krankenschwester auf eine abwaschbare Pinntafel gegenüber von meinem Bett gekritzelt hat, mit der Frage konfrontiert: „Warum ein Hase im Advent?“ Vermutlich, weil er leichter zu zeichnen ist als ein Christkind, das weder mager-kränkelnd noch zu rundlich aussehen soll.

Bisher durfte ich nur einmal zwischen den mehrwöchigen Therapien mein Zimmer verlassen. Schon Stunden davor hatte ich mich auf einen starken Espresso aus dem Automaten im Eingangsbereich des Klinikums gefreut. Der großen Vorfreude folgte bald eine ebenso große Enttäuschung. Die Münzen fielen immer wieder durch den Einwurfschlitz – auch nach dem Fußtritt gegen den Automaten. Aus dem ersehnten Kaffee wurde nichts.
Dabei war es mir gar nicht nur um den Genuss des frisch gebrühten, doppelten Espressos gegangen, sondern darum, das kleine Stück neu erworbener Freiheit nach den langen Wochen im Bett zu genießen. Ein kleines Stück Hochgefühl, um aus der Spitalsroutine von Blutabnahmen, Infusionen, Therapien und Visiten wenigstens kurz auszubrechen.

Es ist aber nicht nur die Langeweile, sondern es sind die Fragen, die mich bedrängen und die die Zeit oft nur schwer erträglich machen. „Wird die neue Therapie erfolgreich sein?“ Eine ursprünglich vielversprechende Behandlung war es nur zum Teil. Ein wenig ratlos wirken die behandelnden Ärzte, wie meine außergewöhnlich seltene Form von Blutkrebs zu behandeln sei. Ich sehe, wie sehr sie sich um mich bemühen. Konsultationen mit ihren Kollegen in Wien, Deutschland und auch den USA zeigen mir, dass ich ihnen nicht gleichgültig bin. Ihr ernsthaftes Bemühen erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.

Die ersten Blutabnahmen belegen: Der neue Weg gibt Anlass zur Hoffnung. Und dennoch will der Satz eines Arztes nicht aus meinem Kopf: „Wir haben nicht mehr viele Pfeile im Köcher.“ Das klingt bedenklich, aber noch ist das Wort „austherapiert“ nicht gefallen. Daraus würde sich konsequenterweise nur eine letzte Frage ergeben: „Wie lange noch?“ Dieser Gedanke ist oft stärker als die allabendliche Schlaftablette.

Mein „Kollega“ tut mir oft leid. Er hat niemanden, der ihn anruft, und Besuch dürfen wir während der Pandemie ohnedies nicht bekommen. Da geht es mir sehr viel besser. Beinahe täglich meldet sich mein Freund Doron aus Jerusalem und erkundigt sich nach meinem Befinden. Ilana und Gil, die eigentlich gar nicht religiös sind, besuchen für mich in Haifa auf dem Berg Karmel die Kirche des heiligen Elias, Namenspatron meines Sohnes, um für meine Genesung zu beten. In den USA hat mich ein Gebetskreis miteingeschlossen. Das gibt mir viel Kraft in diesen Tagen. Und auch hier in Österreich hoffen so viele Menschen mit mir. Manche „halten mir die Daumen“, die Gläubigen unter ihnen sprechen offen über ihre Zuversicht, dass ihre Gebete erhört werden. Ich bin unendlich dankbar dafür.

Den stärksten Rückhalt aber gibt mir meine Familie. Natürlich darf auch sie mich nicht besuchen, aber von der Straße vor der Klinik aus winken sie mir zu und ich winke zurück. Währenddessen unterhalten wir uns übers Telefon. Wie sehr ein selbst so distanzierter Kontakt glücklich machen kann! Ich erfahre von den guten Schulnoten meines Sohnes. Ich höre, dass er unsere Kühe mithilfe des Nachbarn Toni gut versorgt und dass er trotz Lockdown und Sorgen um seinen Vater meist ausgeglichen und fröhlich ist. Mit seinen 14 Jahren ist er erstaunlich selbstständig und persönlich gefestigt. Das nimmt mir viele Sorgen. Und dann sind da die Ermutigungen in Zettelform, die mir meine Frau mit ein paar Süßigkeiten in jeden Sack mit frischer Wäsche steckt.

Aus jedem Telefonat, aus jeder Ermutigung erwächst Freude und daraus wiederum die feste Kraft, den Weg weiterzugehen, auf dem mich so viele Menschen begleiten. Ich habe eine Verantwortung, möchte mich noch nicht fallen lassen, werde mich nicht kampflos der Krankheit ergeben. Das bin ich den Menschen schuldig, die mir nahestehen. Ich habe noch viel vor.

In wenigen Tagen ist Weihnachten, ein Fest kindlicher Freude. Werden wir dieses großartige Ereignis mit ein paar floskelhaften Wünschen abtun oder schaffen wir es, unser Inneres mit dem Göttlichen in Einklang zu bringen? Selbst wenn dieser Gedanke in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft befremdlich ist, so sollte man ihn ob der Größe der Andersheit Gottes zu diesem Fest wenigstens wagen.

Vermutlich werde ich die Klinik vor dem Heiligen Abend verlassen können. Und wenn nicht? Dann habe ich mein Weihnachtsgeschenk von meiner Frau schon bekommen. Sie sagte: „Weihnachten ist heuer dann, wenn du nach Hause kommst!“