Bei jedem EU-Treffen, bei dem über internationale Krisen gesprochen wird, sitzen zwei unsichtbare Teilnehmer am Tisch. Einerseits ein unberechenbarer US-Präsident, andererseits ein russischer Präsident mit seinem immer offener wahrnehmbaren Bestreben, die EU zu spalten. Wie hat dies zuletzt die Diskussion innerhalb der EU verändert?

Rinkevics: Ich bin seit sieben Jahren Außenminister und beobachte eine erhebliche Verschiebung in den Ansichten des EU-Rates für Auswärtige Angelegenheiten. Bis zum Beginn der russischen Aggressionen in der  Ukraine 2014 war Russland einer unserer strategischen Partner. Und die USA waren es ebenso. Definitiv betrachten wir Russland heute nicht mehr als strategischen Partner. Bei den USA ist das anders. Es herrscht inzwischen Einsicht darin, dass die EU sich ernsthafter mit Sicherheit und Verteidigung befassen muss. Andererseits versteht jeder, dass die USA unerlässlich sind und noch immer wichtigster Partner der EU in Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Das gilt durch die Nato-Partnerschaft der meisten EU-Mitglieder, viele bilaterale und regionale Abmachungen. Wir versuchen derzeit herauszufinden, wie wir das Leistungsvermögen der EU stärken können. Und wir suchen nach dem richtigen Weg, weiterhin mit den USA zusammenzuarbeiten. Es gibt Meinungsverschiedenheiten in der Iran-Frage, beim Klimawandel, beim Welthandel, aber wir haben auch viele Gemeinsamkeiten etwa bei Nordkorea und im Umgang mit Russland.

Frühere US-Präsidenten sicherten allen Nato-Staaten zu allen Zeiten ihren Schutz zu. Donald Trump hat diese Beistandsgarantie in Frage gestellt. Er frage sich, warum US-Soldaten ihr Leben für kleine Länder riskieren sollten – besonders, wenn sie aggressiv sind wie Montenegro. Wie haben Sie in Lettland darauf reagiert?

Rinkevics: Zunächst möchte ich beim Blick auf das Verhältnis zwischen den baltischen Staaten und den USA unterstreichen, dass der politische Dialog und die praktische Abarbeitung sehr intensiv sind. Wir hatten den US-Baltikum-Gipfel im April und danach weitere Treffen auf verschiedenen Ebenen. Zudem beinhaltet der jüngsten US-Verteidigungsetat zwei wichtige Punkte für uns. Einer beinhaltet die finanzielle Unterstützung des Baltikums. Und dann wird die Notwendigkeit betont, dass wir die Nato-Mission „Air Policing Baltikum“ zur Luftraumüberwachung und zum Luftraumschutz zu einer vollständigen Luftverteidigung der baltischen Staaten erweitern müssen. Wenn es also um das Sicherheitsverhältnis geht, sehe ich keine Veränderung in den Positionen der USA.

Trotzdem hat es ein Diskussion über die Äußerungen in Brüssel gegeben.

Rinkevics: Wir hatten einen sehr interessanten Nato-Gipfel in Brüssel und haben viel über Lastenteilung gesprochen. Hier unterstütze ich den US-Präsident vollständig. Wenn wir europäischen Nato-Verbündeten ernsthaft über all die Risiken lamentieren, mit denen wir konfrontiert sind, dann müssen wir auch alle jeweils zwei Prozent unseres Staatsbudgets für Verteidigung ausgeben. Lettland hat die Zweiprozentmarke bereits erreicht. Wir Letten werden also nicht kritisiert oder getadelt vom US-Präsidenten. Aber ist gibt eine Menge Länder in Europa, die deutlich reicher sind und das Ziel trotzdem nicht erreichen. Übrigens hat nicht nur Donald Trump dieses Thema aufgebracht sondern auch schon Barack Obama und George W. Bush sowie alle US-Verteidigungsminister.

Wie ist das nun mit den kleinen Staaten?

Rinkevics: Dann möchte ich noch zu dem Punkt kommen, dass der Präsident keine amerikanischen Leben für kleinere Länder riskieren will. Das war nicht die Botschaft, die die baltischen Präsidenten vernommen haben. Trump war an diesem Punkt sehr deutlich: Die USA will die baltischen Staaten umfassend verteidigen, wenn sie in Gefahr sind. Und für alle, denen es vielleicht in den Sinn kommen mag: Lettland ist nicht aggressiv. Wir sind 2003 nicht der Nato beigetreten, weil wir so aggressiv sind, sondern weil wir 1940 die Erfahrung gemacht haben, dass wir Opfer von Aggression wurden. Man muss nur schauen, was gerade in der Ukraine passiert. In diesem Jahr ist der zehnte Jahrestag des russischen Überfalls auf Georgien. All dies zeigt uns, dass unsere Entscheidung richtig war. Es herrscht mit den USA das Einvernehmen, dass Lettland, Litauen und Estland nicht diejenigen sind, die einen Krieg gegen Russland starten wollen.

Ist jetzt der Punkt, über eine neue europäische Verteidigungsstruktur nachzudenken?

Rinkevics: Wir sind uns alle einig, dass eine Stärkung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik notwendig ist. Wenn wir wirklich eine ernste gemeinsame Verteidigungspolitik machen wollen, wenn die EU wirklich eine bedeutende Rolle in unserer Nachbarschaft übernehmen will, wenn wir wirklich eine maßgebliche Außenpolitik machen wollen, dann müssen wir die militärische Zusammenarbeit und unsere Leistungsvermögen ernsthaft angehen. Es gibt eine Menge Themen in Afrika und in unsere südlichen Nachbarschaft. Die Position Lettlands ist dabei eindeutig: Nicht im Gegensatz und nicht parallel sondern nur ergänzend zur Nato. Dementsprechen sollte sich das auch nicht gegen die USA richten.

Aber das könnte zu einem Problem werden für neutrale Staaten wie Österreich oder andere Nicht-Nato-Staaten in der EU.

Rinkevics: Ich teile diese Ansicht nicht. Weil Länder wie Österreich, Schweden, Finnland, Malta oder Zypern ohnehin schon darauf ausgerichtet sind, Nato-Inseln zu sein. Wenn man einen Weg findet, die europäische Verteidigung in Übereinstimmung mit den jeweiligen Verfassungen zu bringen, dann wären am Ende alle glücklich. Schauen wir uns doch nur, wie es mit Finnland und Schweden in den baltischen Staaten funktioniert. Sie haben dort eine intensive Zusammenarbeit mit der Nato, ohne Mitgliedsstaaten zu sein. Auch Österreich hat bereits in vielen Nato-geführten Missionen teilgenommen. Es hat in keiner Weise die Neutralität verletzt. In Dänemark gab es eine Volksabstimmung, an keiner gemeinsamen EU-Verteidigung teilzunehmen. Wir respektieren auch das.

Es gibt den anhaltenen Versuch Russlands, Einfluss auf die Menschen in Osteuropa und besonders in den drei baltischen Staaten zu nehmen. Verstehen ihre EU-Kollegen ihre Sorge und sind sie sich einig in der Bewertung?

Rinkevics: Bis 2014 gab es kein echtes Gespür dafür, unsere Sorgen und Befürchtungen ernst zu nehmen. Die Ukrainekrise war ein Wendepunkt, gefolgt von den US-Wahlen 2016 und einigen europäischen Wahlen. Ich bin mir sicher, dass das Verständnis für hybride Kriegsführung, für Cybersecurity, Informationssicherheit und digitale Propaganda mit all unseren europäischen Partnern jetzt geteilt wird. Natürlich kann man darüber diskutieren, wie man darauf reagiert. Aber die Risikoeinschätzung ist inzwischen mehr oder weniger gleich bei allen.

Vor zwei Jahren konnte ich mir auf einer längeren Recherche im Baltikum ein Bild von der Furcht vor russischen Interventionen machen. Sind die Versuche der Einflussnahme noch immer gleich aggressiv?

Rinkevics: Die Propagandamaschine arbeitet definitiv stramm. Aber um offen zu sein, sehe ich heute keinen Unterschied mehr zwischen Lettland und Österreich. Wir sehen ein voll ausgebildetes Spektrum der Maßnahmen. Die Einflussnahme auf die russischsprachige Bevölkerung  durch das Fernsehen oder Internet hat über die Weiterverbreitung durch  Internettrolle in den sozialen Medien das ganze Land erreicht. Das passiert in allen Sprachen in der EU. Selbst im Konflikt zwischen Spaniern und Katalanen waren Aktivitäten auf beiden Seiten durch Russland zu beobachten. Ein Veränderung zum Positiven sehe ich nicht, es nur nicht mehr ausschließlich unser Problem. Es ist ein gemeinsames Thema.

Österreich ist derzeit EU-Ratsvorsitzender und will dabei die Rolle des Brückenbauers übernehmen. Nun hat Außenministerin Karin Kneissl den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit eingeladen. Ist die Ministerin persönlich und Österreich insgesamt noch ein vertrauensvoller Vermittler wenn es etwa um die Ukraine geht?

Rinkevics: Nun, das einzige Ratstreffen, dass nicht von der EU-Ratspräsidentschaft geleitet wird, ist das Außenministertreffen. Es wird von der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini geführt. Außenministerin Karin Kneissl ist also nur Ko-Gastgeberin. Trotzdem wird das Treffen natürlich praktisch gemeinsam geleitet und die Themen in Absprache gemeinsam auf die Agenda gesetzt. Tatsächlich geschieht die Außenpolitik gegenüber Russland nur in enger Abstimmung aller EU-Außenminister. Die zweigleisige Strategie von Abschreckung und Dialog gegenüber Moskau sollten wir alle verfolgen. Wir haben eine sehr starke vereinte europäische Politiklinie bei der Nichanerkennung der Krim-Annexion und bei der Erfüllung des Minsker Abkommens für die Ostukraine. Wir sehen dort aber gemeinsam keinen Fortschritt. Nahezu täglich werden Menschen getötet. Deshalb stimmen wir alle überein, dass die Beibehaltung der Sanktionen notwendig ist bis es einen substanziellen Fortschritt gibt.

Österreich will ja doch auch Brückenbauer sein.

Rinkevics: Natürlich muss es einen Dialog mit Russland geben, um Themen wie Ukraine, Iran oder Syrien anzusprechen. Da erwarten wir Einigkeit und Solidarität. Denn das ist wichtig für uns alle und das ist auch wichtig für Österreich. Es gibt Themen, die für uns wichtig sind und welche, die für Österreich wichtig sind. Wenn es dort keine Solidarität gibt, kann Österreich auch in anderen Fragen keine Solidarität erwarten. Es ist nicht immer einfach solch eine gemeinsame Basis unter 28 Außenministern zu finden. Normalerweise ist der EU-Ratspräsident das Land, welches die Hohe Vertreterin darin unterstützt, einen Konsens zu finden. Deshalb erwarte ich, dass Österreich diese gute Tradition fortführen wird.

Sie sind also nicht irritiert über die Einladung?

Rinkevics: Es ist ihre Privatangelegenheit. Und ich hoffe, dass sie bei ihrer Hochzeit die Gelegenheit hatte, ihm einzuflüstern, dass die EU in der Russland-Frage geschlossen auftritt. Es ist aber an der Außenministerin, dies zu erklären. Wir schauen auf das nächste offizielle Treffen der Außenminister, wenn es um die Bewertung der Situation ind er Ukraine geht. Wenn es dort keine Einigkeit gibt, haben wir eine ernsthafte Krise. Wenn es dort keine Einigkeit mehr gibt, kann man auch nicht erwarten, dass es in anderen Fragen den bisherigen Spirit gibt, Dinge gemeinsam lösen wollen.

Ein neuer Plan zur Aufteilung des Kosovo und einem Gebietstausch mit Serbien liegt seit dem Forum Alpbach offen auf dem Tisch. Ist das nicht eine Gefahr für den gesamten Westbalkan und ein Vorbild für andere Staaten mit ethnischen Problemen?

Rinkevics: Der Westbalkan war schon während der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft ein wichtiges Thema und wird mit höchster Priorität auch von Österreich weitergeführt. Wir müssen mit extremer Vorsicht an diese Diskussion gehen. Wie kennen alle die Geschichte des Balkans. Es ist eine sehr komplexe und diffizile Region. Wenn es eine Einigung zwischen Kosovo und Serbien geben sollte, die von außen nicht maßgeblich beeinflusst wurde, dann wäre ein Gebietstausch, wie er vorgeschlagen wird, eine denkbare Möglichkeit. Wenn sie von internationalen Akteuren geleitet wird, zu Enttäuschungen bei irgendwelchen Beteiligten führt und zu irgendwelchen dauerhaften Problemen in der Region führt, müssen wir vorsichtig sein. Wir werden das intern und dann auch am Freitag mit den EU-Beitrittskandidaten besprechen. Persönlich möchte ich mir ein abschließenden Urteil vorbehalten, bis ich alle Seiten mit ihren Argumenten angehört habe.