Männer mit Napoleon-Komplex kompensieren ihre kleine Körpergröße durch Machtstreben, heißt es. Der Namensgeber des Historienfilms „Napoleon“, der französische General, Kaiser und Diktator Napoleon Bonaparte, war jedoch gar nicht so klein. 1,67 bis 1,69 Zentimeter Körpergröße lagen in seiner Zeit (1769 – 1821) im Durchschnitt. Der Mythos vom kleinen Napoleon stammt aus den bissigen britischen Karikaturen, die Napoleon provozierten. Die unzensierte Presse schrieb also Geschichte. Der Mythos vom kleinwüchsigen Napoleon ist heute Allgemeingut, die Wahrheit der Historikerinnen und Historiker ist dabei sekundär.

Das gilt auch für das neue Kinoepos des 172 Zentimeter großen Regie-Altmeisters Ridley Scott, wie er in Interviews klarmacht. Darin wird der kleine Kaiser ganz groß. Nicht körperlich – Hauptdarsteller Joaquin Phoenix misst ebenfalls 172 Zentimeter – sondern im Leinwand-Breitformat. Das bietet vor allem für die riesigen Schlachtszenen Platz, schön alphabetisch und chronologisch von Austerlitz bis Waterloo. Die ambivalent zu bilanzierende Story über den vielleicht größten Franzosen, sicherlich den größten Korsen, beginnt mit einer Frau. Marie Antoinette wird geköpft und der Offizier Napoleon blickt recht indifferent in ihre toten Augen. Die aus der Asche der gestürzten Monarchie geborene Republik ebnet den Weg für einen starken Mann.

Viva la France! Long live the Republic! Der Brite mit Wohnsitz in Frankreich leistet sich den Affront, die Geschichte Frankreichs komplett auf Englisch zu erzählen. Übertrieben viel wird ohnehin nicht schwadroniert. Scott ist ein Action-Regisseur, der auf beeindruckende Bilder aus ist – und damit sind nicht nur Action-Massenszenen wie beim Ägypten-Feldzug gemeint, wenn Napoleon, auf einem Stockerl stehend, einer Pharaonen-Mumie und damit Tausenden Jahren Geschichte in die Augen schaut. 

Doch der 85-jährige „Alien“-Schöpfer Ridley Scott ist nicht erst seit seinem letzten, raffinierten Historien-Epos „The Last Duel“ an starken Frauenfiguren interessiert. Als einzig relevante Frau hier ist Madame Josephine Bonaparte mit Vanessa Kirby prominent besetzt und gut ausgestaltet. Auch, wenn ihrer Rolle als Ehefrau historische Grenzen gesetzt sind, ohne den Film zum Doppel-Biopic zu machen. Der Kaiser wird durch seine seltsame, fast sadomasochistische Liebesbeziehung zu Josephine definiert. Was den weltpolitischen Ehrgeizling antreibt, lässt Scotts Film im Unklaren. Tränen wie bei seinem fiktiven „Gladiator“ Maximus fließen nicht; große sättigende Kinobilder bei Kerzenschein und Eisnebel findet er allemal.