Bei der Serie von israelischen Luftangriffen im Raum Rafah im südlichen Gazastreifen sind nach palästinensischen Angaben mehr als 100 Menschen getötet worden. Wie die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA am frühen Montagmorgen unter Berufung auf medizinisches Personal in Rafah meldete, seien unter den Todesopfern auch Kinder und Frauen. Bei den intensiven Angriffen in verschiedenen Teilen der Stadt seien zudem Hunderte weitere Menschen verletzt worden.
Zwei Geiseln gerettet, aber Kritik der UNO
Das israelische Militär hatte kurz zuvor bekannt gegeben, dass „eine Serie von Angriffen auf Terrorziele in der Gegend von Shaboura im südlichen Gazastreifen“ durchgeführt worden sei. Shaboura liegt bei der Stadt Rafah, wo Hunderttausende palästinensische Binnenflüchtlinge Schutz gesucht haben. Die Angriffsserie sei beendet worden, hieß es in der kurzen Mitteilung des israelischen Militärs auf Telegram. Einzelheiten wurden dazu nicht genannt. Wie Israels Militär unterdessen weiter mitteilte, seien bei den nächtlichen Einsätzen am frühen Montag zwei Geiseln aus den Händen der militanten Palästinenserorganisation Hamas bei einem Spezialeinsatz gerettet worden.
Von den Vereinten Nationen gibt es heftige Kritik am Vorgehen der Israelis. Als „schrecklich“ beschreibt Volker Türk, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, die Situation in Nahen Osten im „Ö1-Morgenjournal“. „Mir fallen eigentlich keine Worte mehr ein, wie man die aktuelle Situation beschreiben soll.“
In Rafah hätte sich die Einwohnerzahl seit Kriegsbeginn circa verfünffacht – von 300.000 auf 1,4 Millionen. „Viele haben schon miterlebt, wie Familienmitglieder getötet wurden. Wenn man in so einer Situation noch einen Angriff ausführt, frage ich mich schon, was noch passieren muss“, sagt der österreichische Jurist zu der israelischen Attacke in der Nacht auf Montag.
Die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung, vor allem das Verhindern von Hilfeleistungen, sehe Türk als Verletzung des humanitären Völkerrechts. Das internationale humanitäre Recht erlaubt es zwar, gewisse Objekte im Sinne der militärischen Notwendigkeit zu zerstören, aber nur, wenn die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. „Ich habe schwerwiegende Bedenken, dass das, was sich vor unseren Augen abspielt, noch verhältnismäßig ist“, meint der 59-Jährige jedoch.
Laut Angaben der UNO seien seit Kriegsbeginn Anfang Oktober rund 27.000 Personen im Gazastreifen ums Leben gekommen, 70 Prozent davon Frauen und Kinder. „Dazu 60.000 bis 70.000 Verletzte und eben die extrem prekäre humanitäre Situation, in der man nicht mehr weiß, wie das noch weitergehen soll“, berichtet Türk.
Noch kein Ende der Angriffe auf Rafah
Israel plant indes eine Militäroffensive auf Rafah auch am Boden. Das sorgt international für deutliche Kritik. Nach Angaben von Augenzeugen hat das israelische Militär bereits mehrfach Ziele in der Stadt aus der Luft angegriffen. Israelische Bodentruppen waren dort bisher aber nicht im Einsatz. Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu hatte der Armee des Landes am Freitag den Befehl erteilt, eine Offensive auf Rafah vorzubereiten. „Es ist unmöglich, das Kriegsziel der Eliminierung der Hamas zu erreichen, wenn vier Hamas-Bataillone in Rafah verbleiben“, ließ er mitteilen. Die Armee soll deshalb die Evakuierung der Zivilisten in Rafah vorbereiten.
Israels Armee hat die Planung einer Bodenoffensive gegen Rafah laut einem Medienbericht aber bisher nicht abgeschlossen. Die Strategie für eine Offensive auf die an Ägypten grenzende Stadt, in der Hunderttausende palästinensische Binnenflüchtlinge Schutz gesucht haben, sei „sehr komplex“, zitierte die „New York Times“ am Sonntag (Ortszeit) israelische Beamte und Analysten.
Die Planungen werden „wahrscheinlich einige Zeit in Anspruch nehmen“ und seien bisher auch nicht Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vorgelegt worden. Netanyahus Vorhaben stößt international auf Kritik, darunter auch aus Österreich und seitens der UNO. US-Präsident Joe Biden forderte ein überzeugendes Konzept für den Schutz der dortigen Zivilbevölkerung. Die USA sind der engste Verbündete Israels.
Bidens Regierung äußerte Bedenken
Bidens Regierung habe gegenüber Israel zudem Bedenken mit Blick auf den am 10. März beginnenden muslimischen Fastenmonat Ramadan geäußert, berichtete die „New York Times“ unter Berufung auf zwei israelische Beamte. Ein Angriff auf Rafah während des Ramadan könne von Muslimen in der Region und darüber hinaus als besonders provokant empfunden werden, hieß es. In israelischen Medien hatte es zuvor geheißen, Netanyahu gehe davon aus, dass Israel aufgrund des internationalen Drucks nur rund einen Monat Zeit habe und die Offensive auf Rafah daher bis zum Beginn des Ramadan abgeschlossen sein müsse. Ägypten befürchtet, dass ein massiver Militäreinsatz in Rafah zu einem Ansturm verzweifelter Palästinenser auf die ägyptische Halbinsel Sinai führen könnte.
Avi Dichter von Netanyahus konservativer Likud-Partei habe vorgeschlagen, dass die Bewohner des von Israel abgeriegelten Gazastreifens in ein Gebiet westlich von Rafah entlang der Küste umgesiedelt werden könnten, berichtete die „New York Times“ weiter. Yaakov Amidror, ein ehemaliger General und nationaler Sicherheitsberater, sehe auch noch andere Optionen, darunter einige Gebiete im Zentrum des Küstenstreifens, in die das Militär bisher nicht vorgestoßen sei. Auch die nahe gelegene Stadt Khan Younis könne eine Option sein, sobald Israel den dortigen Militäreinsatz gegen die Hamas beendet habe, hieß es.
Rafah gilt als letzter Zufluchtsort für palästinensische Zivilisten angesichts der israelischen Militäroperation gegen die Terrororganisation Hamas. In dem Ort, der vor dem Krieg rund 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner hatte, sollen sich inzwischen weit mehr als eine Million Palästinenserinnen und Palästinenser aufhalten. Kritiker werfen Israel vor, eine ethnische Säuberung des Gazastreifens im Sinn zu haben.