Es ist ein höchst umstrittenes Thema – die vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu angekündigte unilaterale Entscheidung, am 1. Juli Teile des palästinensischen Westjordanlandes zu annektieren, also dort das israelische Zivilrecht zu verhängen. Das Vorhaben bezieht sich zunächst auf 22,3 Prozent des Gebietes des sogenannten „Area C“, das derzeit unter israelischer Kontrolle ist. Konkret wurde Netanjahu bislang lediglich zum Gebiet des Jordantales, das sich im Osten des Palästinensergebietes, entlang der Grenze zu Jordanien, bis zum Toten Meer zieht. Welche Blöcke jüdischer Siedlungen hinzukommen könnten, soll nach Netanjahus Aussagen gemeinsam mit der US-Regierung entschieden werden. Experten sprechen von insgesamt 30 bis 32 Prozent des gesamten Westjordanlandes, das annektiert werden soll.

Ohne Einbeziehung der Palästinenser

Die neue israelische Regierung unter dem wiedergewählten Netanjahu scheint Tatsachen schaffen zu wollen, solange der amerikanische Präsident Donald Trump noch sicher im Amt ist. US-Außenminister Mike Pompeo sagte bei seiner Visite in Jerusalem im April: „In Sachen Annexion wird ultimativ Israel Entscheidungen treffen“. Von bilateral keine Rede.

Nach dieser Botschaft kündigte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas umgehend alle Verbindungen mit Israel auf, inklusive der von beiden Seiten gepriesenen Sicherheitskooperation. Der jordanische König Abdullah ließ wissen, dass er „die Abkommen mit Israel im Falle einer Annexion durchsehen müsse“. Damit bezieht sich der Monarch auf den Friedensvertrag zwischen den Nachbarn. Israelische Medien berichten, dass der König derzeit keine Telefonanrufe des israelischen Premiers annimmt.

Unruhen befürchtet

Der einstige Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes, Yoram Cohen, befürchtet, dass durch Netanjahus Vorhaben die gesamte Region destabilisiert werden könnte. Die israelische Armee bereitet sich bereits seit Monaten auf Unruhen in den Palästinensergebieten vor.
Unter Experten gibt es grundverschiedene Auffassungen. Professor Avi Bell von der juristischen Fakultät an der Bar-Ilan-Universität sieht es als „objektive Wahrheit“ an, dass internationalem Recht entsprechend „Nicht-Staaten keinen Anspruch auf Territorium haben, die Bevölkerung wohl aber auf Selbstbestimmung“. Ziel der Regierung, so Bell, sei es daher, „keine große Anzahl von Palästinensern in den betreffenden Gegenden zu haben“. Allerdings, geben Menschenrechtsgruppen an, leben derzeit in verschiedenen Dörfern rund 4400 Palästinenser, deren Status dann unklar wäre. Andere Orte, etwa die Stadt Jericho mit 20.000 Einwohnern, wären palästinensische Enklaven inmitten des annektierten Gebietes.

"Staat nenne ich es nicht"

Die Gebiete A und B, die bereits heute teils oder ganz unter palästinensischer Kontrolle sind, blieben entsprechend der Trump-Initiative unberührt. Dort soll es einen Palästinenserstaat geben. Netanjahu bestätigte das, als er sich mit Vertretern von jüdischen Siedlungen traf, die einen palästinensischen Staat an ihrer Seite kategorisch ablehnen: „Es ist eine unabhängige palästinensische Einheit geplant, doch Staat nenne ich es nicht.“

Der Frieden mit Jordanien hält bereits 26, der mit Ägypten sogar 31 Jahre. Der Leiter der Abteilung Nahost im Truman Research Institute for the Advancement of Peace an der Hebräischen Universität Jerusalem, Ronni Shaked, hält es für Wahnsinn, diese Abkommen zu gefährden. Frieden und die gute Nachbarschaft mit Jordanien dienten als bedeutender Sicherheitspuffer in der fragilen Region. Seit 1967 habe Israel keine strategische Politik für dieses Territorium gehabt, erst 1993 sei mit dem Oslo-Abkommen die Vision einer Zweistaatenlösung geschaffen worden. Das sei vom Großteil der Welt akzeptiert worden, inklusive USA, argumentiert Shaked. „Doch die Rechten sprechen über das Land Israel, nicht über den Staat oder das Volk. Es geht ihnen nur um Territorium.“

Absage an die Zwei-Staaten-Lösung

Das, befürchtet er, könnte viel schwerwiegendere Folgen haben, als einen vorübergehenden Gewaltausbruch: „Es ist die Absage an eine Zweistaatenlösung, denn die Palästinenser und die arabischen Staaten würden es niemals hinnehmen“. Eine Annexion hält der Nahostexperte für eine Handlung „gegen den Staat Israel“, die ein großes Sicherheitsrisiko darstellt. Mindestens ebenso schwer wiegt seiner Meinung nach die Problematik für die internationalen Beziehungen. „Israel wäre ein Besatzer. Das spricht im 21. Jahrhundert gegen sämtliche Wertvorstellungen der freien Welt.“