Frankreich ist ein Land der politischen Überraschungen. Kurz vor der Präsidentschaftswahl sah es so aus, als ginge ein gewaltiger Rechtsruck durch die Republik. Noch nie zuvor schien die Rechtsnationalistin Marine Le Pen so nah an der Macht. Zwei Monate später deutet alles darauf hin, dass eine breite Koalition von Links die stärkste Oppositionskraft in der Nationalversammlung wird. Seit Wochen liefern sich das Parteibündnis von Emmanuel Macron und das des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch je näher die Parlamentswahlen rücken, desto geringer wird der Abstand. Wenige Tage vor der ersten Runde am kommenden Sonntag ist Macron die Mehrheit im Parlament nicht mehr sicher. Eine jüngste Umfrage prognostiziert Ensemble!, seinem Bündnis der Mitte, 250 bis 290 von insgesamt 577 Sitzen im Palais Bourbon. Das wäre bestenfalls einer mehr als für die absolute Mehrheit nötig.  

Diese Nachricht scheint Macron aus einer Art politischen Dornröschenschlaf geweckt zu haben. Im Terminkalender des Präsidenten ist jetzt alle paar Tage ein anderer Auftritt in der Provinz vermerkt. Marseille im Süden, Cherbourg im Norden, die Pariser Banlieue nicht zu vergessen. Kaum ein Tag vergeht ohne Händeschütteln. 

Gilt die alte Regel nicht mehr?

Offensichtlich hatte sich Macron bis dahin auf die alte Regel verlassen, dass der neu gewählte Präsident bei den Legislativwahlen wenige Wochen später bestätigt wird. Warum sollte man auch einen Präsidenten wählen, um ihm dann wenige Woche später das Vertrauen zu entziehen und am Regieren hindern zu wollen? Bislang bekam der Präsident jedes Mal seine Mehrheit und konnte ungestört durchregieren, höchstens durch Streiks oder eine später eintretende Kohabitation behindert. Doch in einem Land, wo viele politische Sicherheiten ins Wanken geraten sind, ist auch diese offensichtlich abhandengekommen. 

Mélenchon, Parteichef der France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), der zwei Mal den Einzug in die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen knapp verpasst hat, will jetzt seine Revanche. Dank seines ebenso bunten wie überraschenden Bündnisses mit Grünen, Sozialisten und Kommunisten hat er die Parlamentswahlen zur „dritten Runde der Präsidentschaftswahl“ erklärt. Überall im Land prangen die Plakate mit seinem Porträt, darunter die Ansage: „Jean-Luc Mélenchon - Premier Ministre“. Obwohl er nicht mehr in seinem Wahlkreis Marseille antritt, will er diese Wahl gewinnen und Macron zwingen, ihn zum Regierungschef zu machen.  

Was ist mit den Rechten?

Während Mélenchon das Wunder der Union gelungen ist, steht Le Pen allein da. Das Rassemblement National (RN) und Éric Zemmours nationalistische Partei Renconquête! (Zurückeroberung) haben nach den Präsidentschaftswahlen das Kriegsbeil nicht begraben. In manchen Wahlkreisen treten bis zu drei Kandidaten rechts der Konservativen an und machen sich gegenseitig den Einzug in die Stichwahl unmöglich. Doch mit voraussichtlich 20 bis 55 Sitzen würde Le Pen erstmals über eine eigene Fraktion verfügen. Bislang hatte der RN nur acht Abgeordnete. 

Die Oppositionsmusik wird indes Mélenchon machen, mit seinem dezidiert antikapitalistischen und radikal-ökologischem Programm. „Wir werden die Hölle beenden“, versprach er auf einer Kundgebung, womit die „ordoliberale Herrschaft“ Macrons gemeint ist. Mélenchon will die Rente mit 60 und eine Steuererleichterung für 90 Prozent der Bevölkerung. Den Regeln aus Brüssel will man sich nur dann beugen, wenn sie genehm sind. Angesichts eines Haushalts von 250 Milliarden Euro schlagen Wirtschaftsexperten die Hände über dem Kopf zusammen und prophezeien Frankreich die „Tsipras-Wende“ nach dem Vorbild Griechenlands, das sich am Ende dem Diktat der Austerität gebeugt hat.  

Der linke Trump

Mélenchon mag sich im Lauf der Jahre zu einem Demagogen entwickelt haben, zu einem linken Trump à la française, mit Nupes ist ihm ein politisches Meisterstück gelungen. Mit der „Neuen ökologischen und sozialen Volksunion“ (Nouvelle Union Populaires Écologiques et Sociales) hat er die seit Jahrzehnten zerstrittene Linke zum Preis ihrer Radikalisierung geeint. Er, der mehr als drei Jahrzehnte Mitglied der Parti socialiste (PS) war, hat den Kulturkampf am Ende gewonnen und Frankreichs Sozialdemokratie zerstört. Nach dem katastrophalen Abscheiden der sozialistischen Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen (1,7 Prozent) und dem mageren Ergebnis der Grünen, ist es ihm gelungen, die Gemäßigten zu sich hinüberzuziehen und damit seine extravaganten Positionen zu legitimieren. Um den Preis weniger Sitze im Parlament haben sich Sozialisten und Grüne von ihren Kernüberzeugen verabschiedet und ihre Rolle auf die eines Anhängsels reduziert. Die Sozialisten machen damit ihr Ende amtlich. Die Grünen haben durch den Seelenverkauf auf Jahre hinaus jegliche Machtperspektive verspielt.  

Doch innerhalb der politischen Landschaft Frankreichs, die mittlerweile aus drei Blöcken besteht, macht der Mitte-Block des Präsidenten die Wählerinnen und Wähler am ratlosesten. Selbst diejenigen, die eine zweite Amtszeit Macrons wollten, wissen nicht, warum er weiterregieren sollte. Daran ist vor allem Macron selbst schuld. Abgesehen von einem „Rat der Neugründung“, der gebildet werden soll, um Reformen auszuhandeln, weiß niemand, was er eigentlich will. Sein Programm ist nicht blass, sondern inexistent. Stand seine Bewegung 2017 für den Willen der Erneuerung, der sich im Parlament durch jüngere Abgeordnete, mehr Frauen und viele Vertreter aus der Zivilgesellschaft ablesen ließ, ist der Zauber fünf Jahre später vorbei. Das führt zu einem allgemeinen Desinteresse an den Wahlen, das im Missverhältnis zu dem steht, was nicht nur für Frankreich, sondern ganz Europa auf dem Spiel steht: Frankreichs Haltung zur EU, die ohnehin einer Zerreißprobe ausgesetzt ist, und die Frage, wie es mit den Schulden weitergehen soll. Mélenchon steht für große Spendierhosen. Wofür Macron steht, ist schwer zu sagen.