Herr Magris, Sie werden dieser Tage 80. Ist das Alter etwas Schönes oder Quelle von Bitternis?
CLAUDIO MAGRIS: Ich messe diesem Geburtstag keine besondere Bedeutung zu, wie überhaupt, seit ich dem Kindesalter entwachsen bin, Jahrestage keinen Stellenwert mehr für mich haben. Im Übrigen habe ich ein gutes Verhältnis zur Zeit, die verstreicht, auch wenn mir bewusst ist, dass sie fast vorüber ist. Die Trauer über die Zeit, die vergeht, eine tiefe Traurigkeit ist das Fehlen geliebter Personen, die ein Teil von mir waren und sind, Teil meines Wesens. Wie Biagio Marin glaube ich, dass „die Vergangenheit nicht existiert“.
Marin, Ihr Dichterfreund aus Grado, spürte mit fortschreitendem Alter den „Wind der Ewigkeit“ wehen. Ist das Schreiben Kampf gegen die eigene Vergänglichkeit?
Ich schreibe nicht, um meinen Tod zu verdrängen. Man schreibt aus vielen Gründen. Um etwas oder jemanden zu verteidigen oder anzugreifen, aus Lust am Erzählen im Bewusstsein, dass jemandem eine Geschichte zu erzählen bedeutet, sie zu seiner eigenen zu machen. Man schreibt, um Ordnung zu schaffen, und manchmal, um eine Ordnung zu zerstören. Man schreibt gegen das Vergessen von Leuten, Dingen, Landschaften, Ereignissen. Zu schreiben bedeutet auch, eine kleine papierene Arche Noah zu bauen, in der alles verstaut wird, was man liebt. Wir wissen genau, dass unsere kleine Arche Schiffbruch erleiden wird, dennoch bauen wir sie immer wieder mit unserem kleinen Papier.
Italien, Europa, die Welt, alles scheint aus den Fugen zu geraten. Wie erleben Sie die Gegenwart?
Unsere Zeit ist eine Zeit rasanter Veränderungen, die sich wiederum selbst schnell überleben. Nicht nur Leute meines Alters, alle fühlen sich aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Realität verändert sich, die Politik, die Kunst, ja der Mensch selbst.
Wie verändert sich der Mensch?
Man kann fast von einem neuen Stadium in der Entwicklung des Homo sapiens sprechen. Schon Nietzsche sah das voraus. Sein Übermensch war kein stärkerer, herzloser Superman, sondern einfach ein anderer Mensch. Das unglaubliche Tempo des Wandels scheint alles auszulöschen. Wir erleben eine Zerstörung des historischen Gedächtnisses, die aus den Jüngsten von heute Opfer der Alzheimerkrankheit machen könnte.
Was genau wird zerstört?
Die Erinnerung jedes Einzelnen von uns besteht nicht nur aus dem Selbst-Erlebten, sondern auch aus der Geschichte und Kultur, die unsere Persönlichkeit geformt haben. Ich bin die Zeitung, die ich heute gelesen habe, und das gestrige Geschehen, von dem berichtet wird. Ich bin das gestern erschienene Buch, aber auch und vor allem bin ich „Die Odyssee“ und „Der Mann ohne Eigenschaften“.
Aber diese Prägung geht verloren. Erfüllt Sie das mit Trauer?
In seinem wunderbaren Essay „Apokalyptiker und Integrierte“ warnte Umberto Eco vor bald 60 Jahren vor zwei verfehlten Haltungen: der sterilen Wehmut und dem Gleichsetzen des Endes unserer persönlichen Welt mit dem Ende der ganzen Welt, wie die letzten heidnischen Dichter nach dem Zerfall des Römischen Reiches, und der dummen Hörigkeit allem Neuen gegenüber, eine Geisteshaltung von Integrierten, daher Sklaven.
Wofür plädieren Sie?
Es ist schwierig, das Gleichgewicht zu finden. All das schlägt sich auch in der Politik mit ihren epochalen Umbrüchen nieder. Was wir nie erwartet hätten, auch weil wir alle blinde Bewahrer sind, unfähig zu begreifen, dass sich unsere lieb gewonnene Welt radikal verändern kann. Hätte jemand Mitte Oktober 1989 gesagt, dass nur wenige Tage später die Mauer fallen würde, hätte man ihn für verrückt gehalten. Wir hätten auch nie geglaubt, dass die verschiedenen Formen des Faschismus sich stärker ins Gedächtnis einprägen als die gewohnten politischen Kräfte, an die wir glauben.
Wie existenziell ist die Krise der westlichen Demokratie?
Schreckliche Dinge geschehen, noch schrecklichere zeichnen sich ab, rassistische, brutale Haltungen, die alles verleugnen, was wir als Grundwerte unserer westlichen europäischen Zivilisation betrachten. Eine unglaubliche Vulgarität greift um sich. Aber man darf diese Abartigkeit nicht nur nobel verurteilen. Man muss ihre Gründe verstehen. Der sogenannte Populismus ist das Echo der Stimme, die die Armen gegen die Privilegierten erheben. Arme, die andere Arme zurückweisen wollen. Eine Tragödie. Aber es ist das Antlitz von Armen, die sich unverstanden und mit ihren Problemen alleingelassen fühlen, das sich hier offenbart.
Was läuft schief?
Die Konzentration der linken, demokratischen Parteien auf die Bürgerrechte ist richtig, aber wenn es zu Lasten der sozialen Ansprüche und unmittelbaren Bedürfnisse aller geschieht, ist das verheerend, weil es große Mehrheiten von Demokratie, Liberalismus und Freiheit entfernt. Als Hillary Trumps Anhänger „disgusting“ nannte, war das ein Eigentor, das Trump viele Stimmen brachte und zeigt, dass sie und die von ihr vertretenen Kräfte nicht imstande sind, jene auch mir zuwideren Kräfte zu begreifen. Zum ersten Mal seit Langem wenden sich die Leute in Massen von den herrschenden Gruppierungen ab – ein komplexes Phänomen, das man nicht mit Hochmut abtun darf.
Bietet die Literatur keinen Schutz?
Nicht zufällig waren viele der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts Faschisten, Nazis und Stalinisten. Diese Literaten lieben wir trotz ihrer abartigen Ideen. Wir lieben Pirandello, der nach Matteottis Ermordung ein Solidaritätstelegramm an Mussolini sandte. Aber ich bin mir sicher, seine Hausmeisterin verstand mehr von Politik als er.
Ist das eine Absage an die alte Idee vom „Adel des Geistes“?
Den Adel des Geistes gibt es nicht und noch weniger einen Klub anerkannter Vertreter dieses Adels. Es existiert latent im Geist jedes Menschen eine mögliche Vornehmheit, die frei erblühen, aber auch degenerieren und ins Perverse und Vergiftende umschlagen kann. So ist es unschön, wie in Mitteleuropa, das ich sehr liebte und gut kannte, das Gefühl von Freundschaft zu anderen Völkern, das mit der Hoffnung auf den Fall der von den Diktaturen errichteten Mauern einherging, verschwunden, wenn nicht ausgelöscht ist.
Das Nationale gehört zu Europa. Wurde seine Kraft unterschätzt?
Nie hätten wir gedacht, dass die gefallenen politischen durch ethnische Mauern ersetzt würden. Und das in einer Welt, in der Johannes Urzidil, der deutsch-jüdische Prager Autor, sagen konnte: Ich bin hinternational in dem Sinn, dass ich hinter den Nationen lebe. Diese gefährlichen Rückschritte sind fast überall auszumachen, oft kommen die Schwäche und das Unvermögen der liberalen Kräfte dazu, ihnen entgegenzutreten. Gewiss auch in Italien, wo niemand gedacht hätte, dass eine regionalistische, identitäre Partei, die vor wenigen Jahren noch bei vier Prozent stand, so stark, energisch und barbarisch werden könnte. Leider scheint die Welle zu wachsen, was dazu führt, dass die EU fast inexistent ist. Das Europa, an das ich glaubte und glaube, ich zweifle immer stärker, dass es je Realität wird, ich sehe es immer mehr zurückweichen und weniger werden.
Wie sieht Ihr Europa aus?
Es ist ein Europa, in dem alle Probleme von allen als eigene gesehen werden, nicht als jene des einen oder anderen Landes, Italiens schon, aber Deutschlands oder Tschechiens nicht. Gerade so als sagte die italienische Regierung angesichts der über das Meer kommenden Migranten, die immer öfter grausam zurückgewiesen werden, dies sei ein Problem Siziliens, da die Schiffe dort anlegen und nicht in Mailand oder Bologna. Vor gut einem Jahr habe ich in Danzig das Solidarnoscmuseum besichtigt. Der Direktor, selber ein alter Aktivist, sprach mit Leidenschaft von den Kämpfen und Idealen von damals. Am Ende sagte er: „Und all das für nichts.“
Und, hat er recht?
Das Unbehagen ist groß, auch ich verspüre es. Aber erinnern wir uns an die Worte von Romain Rolland, die Antonio Gramsci so schätzte: Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens. Die Literatur kann weder Ratschläge noch Befehle erteilen, aber sie kann aufzeigen, verständlich machen und fühlen, was im Leben jedes Einzelnen Freiheit oder Tyrannei, Würde oder Demütigung oder bittere Armut bedeuten. Vielleicht ist das sehr wenig, aber es ist doch viel.