Imposante Zahlen, die für sich sprechen: Mit einer Fläche von 240 Hektar auf dem ehemaligen Flugfeld Aspern im Nordosten Wiens, im Bezirk Donaustadt, ist die neue „Seestadt“ eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas.


Bis zum Vollausbau 2028 sollen hier mehr als 20.000 Menschen wohnen und ebenso viele arbeiten. Erste Pläne, auf dem 1977 stillgelegten Flughafengelände Arbeitsplätze und Wohnraum zu schaffen, gehen auf die 1980er zurück. Als sich Anfang der 2000er-Jahre die Hinweise verdichteten, dass man auf diesem Areal Stadterweiterung im großen Maßstab praktizieren werde, war den beiden Grundeigentümern Bund und Stadt Wien klar, dass man dabei multifunktional denken und einige Marksteine für die Zukunft setzen musste. In einem mehrjährigen Prozess und nach einem internationalen Wettbewerb entstand ein Masterplan, der 2007 einstimmig im Gemeinderat der Stadt Wien angenommen und auch beschlossen wurde. „Dieser Plan ist für uns die Leitlinie, nach der wir bis heute arbeiten“, sagt Gerhard Schuster, Vorstandsvorsitzender der Wien 3420 aspern Development AG, die für die Entwicklung der Seestadt zuständig ist. Zehn Jahre später – der Südwesten der Seestadt ist fertig und rund ein Viertel der Gesamtfläche bebaut – ist klar: „Dieser Masterplan ist robust, er verträgt Veränderungen und Anpassungen“, weiß Schuster.


Ein paar Grundprinzipien stünden allerdings unverrückbar fest: „Einerseits größtmögliche Durchmischung der Funktionen – sowohl bei den Betriebs- und Gewerbeansiedlungen als auch im Wohnbereich –, weiters die Anbindung an den öffentlichen Verkehrsstrang mit U-Bahn-, Bus-, Straßenbahn sowie Schnellbahnverbindungen mit Wien und dem Umland, ein zukunftsweisendes Mobilitätskonzept mit öffentlichem Verkehr an der Spitze (gefolgt von Fußgänger, Radfahrer und Autoverkehr) sowie ein Energieversorgungskonzept mit einem hohen Anteil an erneuerbarer Energie“, zählt Schuster auf.

Dass man damit auf dem richtigen Weg sei, bestätige unter anderem eine erste Studie zur Wohnzufriedenheit in der Seestadt mit einem Anteil von mehr als 80 Prozent „gern“ oder „sehr gern“ in der Seestadt lebender Menschen sowie der konstante Zuzug: „Leerstand ist derzeit weder bei den Wohnungen noch bei den Erdgeschoßzonen für Geschäfte oder Betriebe ein Thema.“
Diesem Befund kann Fritz Oettl, der gerade sein zweites Baugruppenprojekt in der Seestadt verwirklicht, nur beipflichten: „Unser ,Haus JAspern‘ war im September 2014 das erste, das in der Seestadt fertig wurde, das erste Baby der Seestadt wurde hier geboren und die älteste Bewohnerin im Haus war 84“, so der Seestadt-Fan der ersten Stunde. „Als wir 2013 mit dem Projekt begannen, war die Seestadt etwas für Mutige“, gibt er zu. Das städtebauliche Konzept habe ihn aber überzeugt: „Der Grundriss mit dem See in der Mitte ist schön, die Anbindung an die U-Bahn ist perfekt und ins Marchfeld ist es nur ein Katzensprung.“ Anders ausgedrückt: „Vom Zentrum in die Wiener Seestadt zu fahren, das ist wie mit der U-Bahn aufs Land. Und gleichzeitig ist man in einem gut konzipierten Stadtteil.“ Außerdem überzeuge ihn das Verkehrskonzept: „Hier hat man das Gefühl, als Fußgänger und Radfahrer der wichtigste Stadtbewohner zu sein“, analysiert er die Entscheidung, demnächst auch selbst hierherzuziehen – sein Büro ist ohnehin schon vor Ort.

Um Wohnen und Arbeiten in der Seestadt geht es auch Caroline Palfy, die für den Investor Günter Kerbler mit dem HoHo das Leuchtturmprojekt des neuen Stadtviertels entwickelt hat: Hinter dem Kürzel HoHo verbirgt sich das höchste Holzhochhaus der Welt, seit Oktober 2016 wird daran gearbeitet, im Frühjahr 2019 soll es fertig sein – 24 Stockwerke bzw. 84 Meter hoch.


Dabei drängt sich freilich die Frage auf: Warum nicht gleich 100 Meter hoch bauen, was das Material leicht erlauben würde, um den Höhenrekord international ein wenig länger abzusichern? „Das war nie die Idee“, sagt Palfy und erklärt: „In erster Linie ging es darum, ein nachhaltiges Gebäude zu bauen – und das Raumplanungskonzept sah 84 Meter Höhe vor“. Zu dieser Einstellung passt die bewusste Entscheidung, nichts an dem Bau patentieren zu lassen: „Hier kann jeder alles nachbauen“, betont Palfy und ist auf die Einfachheit des Systems stolz. Rund 200 Anfragen für Baustellenführungen, die mittlerweile wöchentlich bei ihr landen, zeigen: „Wir haben mit dem Projekt etwas ausgelöst, wir spielen eine Vorreiterrolle.“


Alles andere als üblich ist beim HoHo auch das Nutzungskonzept. Einfach nur Büros in einem Haus, das das Raumerlebnis „pures Holz“ und See(-park-)blick bietet, kamen fürs HoHo nicht infrage: „Die sieben Mieterbereiche sind für uns Fitness, Gesundheit, Beauty, Wellness, Büro, Hotel und servisierte Appartements“, sagt Palfy. Wie gut das Konzept aufgeht, wird sich gegen Ende des Jahres zeigen, Büroflächen sind erfahrungsgemäß immer erst zeitnah zur Fertigstellung vergeben. „Wir haben jedenfalls seit ein paar Wochen viel Nachfrage.“

Nachhaltigkeit ist auch das Thema des zweiten Leuchtturmprojekts der Seestadt Wien mit internationaler Strahlkraft. Mit der Forschungsgesellschaft ASCR (Aspern Smart City Re­search), wurde 2013 durch Siemens, Wien Energie, Wiener Netze, Wirtschaftsagentur Wien und die Seestädter Entwicklungsgesellschaft eine in dieser Größenordnung einzigartige Kooperation gebildet, die an Energielösungen für die Städte der Zukunft arbeitet. „Konkret zeigen wir in der Seestadt seit zwei Wintern an drei Gebäuden – einem Wohnhaus, einer Schule und einem Studentenheim –, dass es möglich ist, diese Bauten ohne Fernwärmeanschluss bzw. Energiezufuhr von außen zu nutzen“, sagt ASCR-Geschäftsführer Robert Grüneis und verweist beispielsweise auf Fotovoltaik- und solarthermische Anlagen auf den Dächern und verschiedene Wärmepumpen sowie die Nutzung der Abwärme von Tiefgarage, Turnsaal und Klassenzimmern. Die Fotovoltaikanlage des Studentenheims produziere mittlerweile mehr Strom, als im Gebäude gebraucht werde und solle in Zukunft sogar Energie für den Strommarkt erzeugen – „was im Praxistest funktioniert“.

Dabei wird in großen Zusammenhängen gedacht und in die Zukunft geschaut – das ­Stichwort: Building Ma­nagement System. „Wir können die drei Gebäude so managen, dass wir jederzeit wissen, wie es einem Haus in der Energiestatistik geht“, sagt ­Grüneis. Ein kluges Building Management System berücksichtigt beispielsweise das Wetter von morgen, ob es sonnig wird, ob die Energiespeicher gefüllt sind, die Energie fürs eigene Haus gebraucht wird oder auf dem Markt an­geboten werden kann. „Gleichzeitig bauen wir ein Smart Grid, ein smartes Stromnetz auf“, sagt Grüneis, auch hier gelte Voraussicht. „Netz­betreiber müssen wissen, wie ein Stromnetz zum Beispiel auf das Wetter oder den ­Stromerzeugungszustand in einer größeren Region ­reagiert. Sensoren etwa in den Transformatoren messen ­permanent den Zustand des Netzes nach verschiedenen Kriterien, um etwaige ­Pro­bleme früher erkennen und beseitigen zu können.“ Rund 1,5 Millionen Daten pro Tag werden laut Grüneis von der ASCR ausgewertet: aus den Produktionsanlagen, dem Netz und 50 Wohnungen, deren Mieter sich freiwillig bereit ­erklärt haben, am Forschungsprojekt teilzunehmen. Auch in dieser Hinsicht ist die ­Seestadt eine Nummer für sich.