Gastfreundschaft wird in Dobërdoll ernst genommen. So ernst, dass die Menschen lange Zeit kein Geld für Abendessen, Übernachtung und Frühstück in ihren Hütten annehmen wollten. „Wir haben es beim Verlassen unter die Türschwelle gelegt“, erinnert sich Wanderführer Ervin Lani an die Anfänge des noch immer sehr zart keimenden Tourismus im nördlichen Albanien zurück.

Die abgeschiedene Hochalm Dobërdoll auf 1750 Metern ist ein betörendes und friedliches Fleckchen Erde: Nur im Sommer bewohnt, kehren die Schafe im Abendrot mitsamt den Schäfern zurück ins saftig grüne Tal. Aus der Ferne sehen die weißen Punkte so aus, als hätte man das Alpin-Tetris eingeschaltet. Wer morgens mit Naturpanorama aus der Hütte steigt, wird von grasenden Pferden begrüßt.

Das Leben ist einfach in den Bergen – wunderbar einfach; fokussiert auf den Moment, die nächste Tour, das Jausendosen-Befüllen, die allerreinste Bergluft, das Rucksack-Packen sowie auf die Kraft in den Waden, manchmal auch auf den Muskelkater. Abgeschottet von jeglichem Mobilfunknetz und gefühlsmäßig abgetrennt vom Rest der Zivilisation, wähnt man sich weit weg von Hass, Krieg, Gier, Verkehr, Neid, Hektik, Menschenmassen.

Zur Pause am„Peaks of the Balkans“-Trail empfiehlt sich u. a., in der Nähe von Nderlysa im Flussbett zu wandern und sich danach im glasklaren Naturpool oder bei einem der Wasserfälle zu erfrischen
Zur Pause am„Peaks of the Balkans“-Trail empfiehlt sich u. a., in der Nähe von Nderlysa im Flussbett zu wandern und sich danach im glasklaren Naturpool oder bei einem der Wasserfälle zu erfrischen © Imago stock&people (imago stock&people)

Ein Wanderweg als Friedensprojekt

Wenngleich Dobërdoll wie die große weite Welt anmutet, da es an grüne Hochebenen Georgiens, an neuseeländische Schaflandschaften, an isländische Wasserfälle und Bregenzerwälder Blumenvielfalt erinnert. Solarzellen verhelfen – in der Theorie – den Gästehäusern zu Wlan. Das ist deswegen wichtig, damit nicht jeden Mittag jemand 500 Meter hinaufreiten muss, um oben am Grat bei marginalem Empfang die Zahl der Gäste zu erfragen. Kein Witz. So fing der Tourismus in Dobërdoll an. Mit Pferdepost.

Der Tromeda aalt derweil unbeeindruckt in der Sonne. Der 2366 Meter hohe Gipfel der Prokletije-Kette markiert das Herzstück des Dreiländerecks, da der Berg Albanien, Montenegro und Kosovo am transnationalen Weitwanderweg „Peaks of the Balkans“ eint.

2011 als Friedensprojekt in einer lange kriegsgebeutelten Region ausgesteckt, erstreckt sich der gesamte Weg auf 192 Kilometern in diesen drei Balkanländern. Das Ziel lautete, Grenzen abzubauen und die Bewohner und Bewohnerinnen zusammenzubringen. Großteils auf Hirtenpfaden ergeht man sich eine der abgelegensten, einsamsten und verwunschensten Bergregionen Europas. In zehn Tagesetappen werden rund 10.000 Höhenmeter zurückgelegt, Abkürzungen sind genauso möglich wie eine individuelle Tour.

Der höchste Berg des Kosovo

Voraussetzung: gute Kondition und vorab besorgte Grenzübertrittsgenehmigungen. Einige Wanderanbieter haben „Peaks of Balkans“-Reisen im Programm. Das größte Plus einer gebuchten Tour: Gepäcktransport via Jeeps oder Maultieren. 2013 erhielt das Friedensprojekt zu Fuß vom Tourismus-Weltverband den „Tourism of Tomorrow“-Preis verliehen. Sollte das Konzept vom sanften Tourismus jemals von einem Ort inspiriert worden sein, es wäre mit Sicherheit Dobërdoll gewesen.

Von dort startet der letzte Wandertag am Trail der neun Grenzüberschreitungen. Mit wehmütigen Blicken zurückführt der Steig auf den höchsten Berg des Kosovo: den Gjeravica auf 2656 Metern.

Ein Spitzen-Aussichtsberg, dessen Weg sich am Grat bzw. am Felsen hinaufschlängelt. Oben legen sich einem Albanien und Kosovo zu einem umwerfenden Bergseepanorama zu Füßen. Beim Abstieg wähnt man sich mitunter an einem Fjord in Norwegen und nicht im Kosovo.

Der Gjeravica ist der höchste Berg des Kosovo
Der Gjeravica ist der höchste Berg des Kosovo © Iwona/stock.adobe.com

So schmeckt Gastfreundschaft

Überhaupt ist jeder Tag der Tour von Reka e Allagës über zig Gipfel bis nach Gjakovë im Kosovo ein alpines Überraschungsei: Einmal geht es über breite Flusstäler zu tosenden Wasserfällen, dann über schroffe Pässe vorbei an glasklaren Gletscherseen. Ein anderes Mal führt der Weg durch ein bizarr anmutendes Karstgelände auf den Arapi, der auch das „Matterhorn des Balkan“ genannt wird. Auf albanischem Boden säumen zig Bunker aus der Ära Enver Hoxha (1972–1985) an skurrilsten Orten den Weg, Grenzsteine markieren die nationalen Trennungslinien.

Einer der beeindruckendsten Wandertage ist der Sturm auf den markanten, 2057 Meter hohen Taljanka-Gipfel in Montenegro. Einmal über einen Buchenwald und eine Hochweide nach oben gestiegen, schreiten Bergfexe stundenlang am Grat entlang; von Gipfel zu Gipfel. Schäferhunde und Bergziegen stehen Spalier. Der Blick streift die atemberaubenden Steilwände des Karanfili bis zu den Tälern der Kelmend-Region.

Burek (Bild) und Fil begleiten einen auf Schritt und Tritt
Burek (Bild) und Fil begleiten einen auf Schritt und Tritt © Imago images/Addictive Stock (Pimienta Dulce via www.imago-images.de)

Die Gastfreundschaft in der Gegend schmeckt überall: Egal wie einfach die Unterkünfte sind, das Essen ist frisch, großartig und liebevoll zubereitet. Die Tische biegen sich vor Hirtenkäse, Gurken, Tomaten, gefüllten Paprika, Burek in allen Variationen, gegrillten Ziegen, geschmortem Kalb, Rote-Rüben-Salat, Bohneneintöpfen, gefüllten Weinblättern und Spezialitäten wie Fil in Medizinball-Durchmesser. Die Rede ist von einem geschichteten Palatschinken-Kuchen mit Obers und Käse. Von der Portion, die Mustafa und Fetija in Reka e Allagës auftischen, könnte eine Großfamilie eine Woche lang satt werden. Mindestens. Alle Speisen kommen zusammen auf den Tisch, aufessen muss Gott sei Dank niemand.

Wer allerdings Glück hat, bekommt unerwartet auf einer schlichten Almhütte irgendwo zwischen dem touristischeren Valbona-Tal und Dobërdoll einen frischen Burek im Holzofen gebacken. Wer will, darf mitkneten. Vor dem Weitergehen empfiehlt sich ein kleiner Raki. Ablehnen? Zwecklos.

Zurück in der Zivilisation, eine lebendige Studenten-szene sowie nächtliche Muezzin-Ruf-Konzerte in Prizren
Zurück in der Zivilisation, eine lebendige Studenten-szene sowie nächtliche Muezzin-Ruf-Konzerte in Prizren © Imago images/M&G Therin-Weise (M&G Therin-Weise via www.imago-i)

Gemeinsame Wege, gemeinsame Vergangenheit

Nebst atemberaubender blühender Kulisse voller Enzian, Edelweiß, Albanischer Lilien (Glückstreffer!), Kartäusernelken, Kohlröschen oder knallig roter Spornblumen ist der „Peaks of the Balkans“ auch eine hochinteressante Geschichtsstunde im Gehen.

Partisanenfriedhöfe, der Blutracheturm in Theth, Kriegsschauplätze, Denkmäler oder Bunker zeugen von der wechselvollen Historie mitten in Europa. Im Kosovo sind Soldaten aus vielen Ländern allgegenwärtig, manchmal teilt man den Platz am Gletschersee mit ihnen. „Jeder hat eine Kriegsgeschichte zu erzählen“, sagt Wanderführer Nikson Buzhala. Geredet wird kaum darüber: über Traumata, ermordete Familienmitglieder, gefallene Söhne, Väter, Lover, über Enteignungen oder Vergewaltigungen.

Der beste Zeitpunkt, um mehr über Albanien, Montenegro und den Kosovo zu erfahren, ein paar Vorurteile abzubauen bzw. Wissenslücken zu schließen, ist nach getaner Wanderung bei einem Bier: unter kreisenden Adlern oder in Anwesenheit von Glühwürmchen. Dazu sollte man das balkanesische Kühlketten-Prinzip am Berg kennen. Alte Kühlschränke werden von oben gewässert. Vor der Entnahme bitte Wasser stoppen. Gëzuar! Auf eine famose Region!