Die vielen Sekunden, welche man empfunden hat, entschlafen im Gehirn, dem Zentrum des Herzens, für immer.“ Zum Glück ist es nicht ganz so, wie Günter Brus in „Das gute alte West-Berlin“ es beschreibt. Er erinnert sich noch recht gut an sein Exil. 1969 flüchtete der Aktionskünstler mit Familie vor der österreichischen Justiz nach Berlin. Vor vier Monaten Haft (wegen Herabwürdigung österreichischer Staatssymbole) unter verschärften Bedingungen. Natürlich ist das Buch anekdotisch, aber Brus beschreibt die Künstler-Bohème Westberlins mit viel Witz, der Sound seiner Prosa ist ebenso einnehmend wie der Umstand, dass er jene Zeiten zwischen Existenzminimum und Alkoholmissbrauch nicht über Gebühr romantisiert. Natürlich schildert er die Eskapaden mit einigem Genuss: „Entweder wird einem anarchistisches Verhalten in die Wiege gelegt, oder man muss es im Laufe des Erwachsenwerdens erobern.“

Der Band gefällt nicht nur als Ansammlung von Genre-Bildern, es ist zugleich Zeitdokument und alternatives Stadtporträt: West-Berlin beschreibt Brus liebevoll als Ort der Freiheit, für den Osten und seine kleinbürgerliche Diktatur hat er dagegen nichts als Verachtung übrig.