In zwei Initiativstellungnahmen liefert der EWSA dem EU-Parlament und der Kommission einen Beitrag für die wirtschaftspolitische Agenda der kommenden Periode. Warum braucht es in Europa eine neue Wirtschaftsstrategie?

JUDITH VORBACH: Einerseits ist die EU im globalen Vergleich relativ wohlhabend. Und in den letzten Jahren verzeichneten wir eine positive Wirtschaftsentwicklung und steigende Beschäftigtenzahlen. Leider ist dieser Aufschwung aber nicht bei allen angekommen. So sind zum Beispiel über 20 Prozent der EU-Bevölkerung noch immer von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, und es gibt noch massive Ungleichgewichte bei Einkommens- und Vermögensverteilung. Handelskonflikte, Klimakrise, Digitalisierung oder der Brexit stellen große Unsicherheitsfaktoren dar. In der Stellungnahme schlagen wir viele Maßnahmen für Widerstandsfähigkeit und eine gute EU-Zukunft vor.

Die Erweiterung um die Westbalkanstaaten zieht sich in die Länge, innerhalb der EU ist es bis heute nicht gelungen, die Gefälle zwischen West und Ost, Nord und Süd auszugleichen.

Der Schlüssel, um das zu überwinden, ist die Einsicht, dass die Basis für ein hohes europäisches Wohlstandsniveau in gegenseitiger Solidarität und der Fähigkeit zum Kompromiss liegen. Konkrete Maßnahmen sind gemeinsame soziale Mindeststandards, eine Stärkung der Kollektivvertrags-Systeme oder die rasche Umsetzung der Europäischen Arbeitsbehörde. Und die Förderung von Bildung und Forschung und Entwicklung tragen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und damit zu Aufwärtskonvergenz bei.

Ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten eine logische Konsequenz?

Das wäre die schlechtere Alternative. Demgegenüber müssen wir den Kampf für mehr wirtschaftliche und soziale Aufwärtskonvergenz verstärken. Eine weitere Maßnahme wären zum Beispiel gemeinsame europäische Mindeststandards in den nationalen Arbeitslosenversicherungen. Dazu wird im EWSA gerade eine Initiativstellungnahme erarbeitet. Folgt man insgesamt den Prinzipien der Europäischen Säule sozialer Rechte, bin ich zuversichtlich, dass der wichtige Aufholprozess gelingen kann, wovon ja auch wirtschaftlich stärkere Staaten profitieren würden.

Der Euro als gemeinsame Währung wird immer wieder als politisches Druckmittel eingesetzt, siehe Italien.

Um die Schuldentragfähigkeit Italiens langfristig sicherzustellen braucht es eine überzeugende Perspektive über dessen wirtschaftliche Erholung. Eine restriktive Anwendung der Defizitregeln kann hier kontraproduktiv sein. Insgesamt hätte ein „Italexit“ drastische Folgen, die bis zum Staatsbankrott reichen können, der wiederum die EU-Finanzmärkte in Turbulenzen stürzen würde. Ich rechne nicht mit so einem Szenario, da das in niemandes Interesse liegen kann.

Durch Brexit und neue Aufgaben gerät der mehrjährige Finanzrahmen unter Druck, die Nettozahler wollen das nicht ausgleichen. Sind neue Einnahmequellen, etwa durch eine Digitalsteuer, brauchbarer Ersatz?

Gleichzeitig mit dem Beitragsausfall gibt es auch einen erhöhten Bedarf neuer Budgetmittel, zum Beispiel zur Bewältigung der Klimakrise. Vor diesem Hintergrund schlägt der EWSA vor, die verfügbaren Finanzmittel beim kommenden Finanzrahmen auf 1,3 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu erhöhen. Die Schaffung neuer Einnahmequellen, die direkt in das EU-Budget fließen, wird positiv gesehen. Wie bei allen Steuern muss jedoch sorgfältig auf die Verteilungswirkung geachtet werden.

Stichwort Migration: Ist die Zuwanderung in Europa für den Arbeitsmarkt bzw. die Konsummärkte ein wichtiger und somit positiver Faktor oder wachsen dadurch letzten Endes die Sozialausgaben?

Generell braucht es einen umfassenden Ansatz für die Migrationspolitik auf der Grundlage gemeinsamer Verantwortung und auf Basis der Achtung der Grundrechte. Was den Arbeitsmarkt betrifft, muss sowohl bei Zuwanderung als auch bei grenzüberschreitender Arbeit zentral sein, dass Lohn- und Sozialstandards vor Ort grenzüberschreitend durchgesetzt werden.

Sie weisen in Ihrem Bericht darauf hin, dass die Klimakrise nicht nur für die Umwelt an sich, sondern auch in wirtschaftlicher bzw. industrieller Hinsicht eine der größten Herausforderungen der Gegenwart ist. Warum?

Umfassender Klimaschutz wird sich auch in unseren Wirtschaftsstrukturen niederschlagen. Besonders wichtig sind daher eine solidarische Verteilung der Auswirkungen und die konsequente Begleitung dieser Prozesse durch die Sozialpartner. Nur eine soziale Klimapolitik wird erfolgreich sein.

Zur Politik der EZB unter Mario Draghi gibt es viele kritische Stimmen; was erwarten Sie von der designierten Chefin Christine Lagarde?

Diese kritischen Stimmen teile ich nicht, vor allem wenn es um die Stabilisierungsfunktion der EZB geht. Die Niedrigzinspolitik erscheint mir auch aufgrund der Deflationsgefahr gerechtfertigt. Von Christine Lagarde erwarte ich, dass sie die gesamtwirtschaftlich stabilisierende Rolle der EZB fortschreibt und besonderes Augenmerk auf die Stabilität der EU-Finanzmärkte zu legt.

Braucht Europa - bzw. die Eurozone - einen gemeinsamen „Finanzminister“?

Für mich hat das nicht Priorität. In der Stellungnahme haben wir uns darauf verständigt, dass dieser/diese gegenüber dem EU Parlament rechenschaftspflichtig sein muss. Und es war mir wichtig, dass es ein gleichwertiges Pendant für EU-Sozial- und Arbeitsangelegenheiten braucht. Für dringender halte ich die „goldene Regel“, die besagt, dass öffentliche Zukunftsinvestitionen aus den Defizitgrenzen ausgenommen werden. Denn für eine zukunfts-fitte EU brauchen wir Investitionen in nachhaltige Mobilität, erneuerbare Energien, sozialen Wohnbau, Bildung, Forschung und Digitalisierung.

Solange einzelne Mitgliedstaaten wie Irland oder Luxemburg kreative Steuerlösungen für global players anbieten, ist ein gemeinsames europäisches Vorgehen kaum möglich. Wie kann das geändert werden?

Einen Hoffnungsschimmer stellt der Vorschlag der EU-Kommission dar, in mehreren Bereichen der Steuerpolitik – allen voran im Bereich der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung – schrittweise das Einstimmigkeitsprinzip unter den Mitgliedstaaten aufzuheben. Stattdessen sollen die Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen und auch das EU-Parlament eingebunden werden. Dies würde ein gemeinsames Vorgehen erleichtern. Der Haken daran ist, dass auch die Entscheidung dazu einstimmig gefällt werden muss. Im EWSA gab es dazu sehr kontroversielle Sichtweisen, aber es gelang eine gemeinsame Stellungnahme, in der diese Debatte begrüßt wird.

Handelsverträge wie mit Singapur, Japan oder nun der umstrittene Mercosur-Pakt, gegen den es großen Widerstand gibt, sind die Antwort Europas auf die großen Blöcke. Der richtige Weg?

Auch aus Arbeitnehmersicht sind Handelsabkommen nicht grundsätzlich abzulehnen. Jedoch sehen wir vielfach ein großes Ungleichgewicht zuungunsten von Arbeitnehmer/-innen, Menschenrechten und der Umwelt. Auch plädieren wir für eine Ausnahme der Daseinsvorsorge aus der Liberalisierung der Dienstleistungen.

Derzeit sind 19 von 28 Staaten Teil des Euroraumes. Wovon hängt es ab, dass andere folgen?

Sieben der neun EU-Staaten, die noch nicht den Euro eingeführt haben, haben sich verpflichtet dies zu tun, wenn sie die vereinbarten Konvergenzkriterien erreicht haben. Für Dänemark und das Vereinigte Königreich gibt es eine Ausstiegsoption. Aus meiner Sicht wird die Motivation zur raschen Einführung des Euro größer, je mehr eine Aufwärtskonvergenz gelingt. In der Stellungnahme haben wir für die rasche Aufnahme der noch übrigen Staaten plädiert.

Es gibt viele Brüche in Europa, auch in der Sozial- und Wirtschaftspolitik; was fordern Sie von Kommission und Mitgliedsländern? Welche Rolle kommt dem EU-Parlament zu?

Besonders wichtig ist mir eine positive Zukunftsvision. Wir haben uns auf folgende Ziele geeinigt: nachhaltiges und inklusives Wachstum, Verringerung der Ungleichheiten, Aufwärtskonvergenz, Gewährleistung des Produktivitätswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit, ein unternehmens- und investitionsfreundliches Umfeld, qualitativ gute Arbeitsplätze und angemessene Entlohnung, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, stabile und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete öffentliche Finanzen, ein stabiler Finanzsektor und die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele 2030 und der Ziele des Pariser Klimaabkommens. Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen braucht es eine Balance zwischen der geldpolitisch/finanziellen, realwirtschaftlichen, sozialen und politischen Säule, wobei diese vier Säulen auch in einer Wechselwirkung zueinanderstehen. Zum Beispiel müssen im Zuge der Finanzmarktregulierung auch soziale und ökologische Auswirkungen berücksichtigt werden. Werden im Bereich der politischen Säule das Europäische Parlament und die Sozialpartner verstärkt in zentrale sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen eingebunden, wird dies auch zu einer Aufstockung der sozialen Säule beitragen. Und soziale Sicherheit wirkt sich positiv auf die Nachfrage und damit auf die Wirtschaftsentwicklung aus, wovon auch die Unternehmensseite profitiert.