Am Tag nach seinem Geburtstag - Sebastian Kurz wurde gestern 35 Jahre alt - schreitet der ÖVP-Parteitag zu seiner Wiederwahl als Chef der Volkspartei. Der Parteitag in St. Pölten ist als "Megaevent" konzipiert - 1.500 Gäste meldeten sich an, 540 davon sind wahlberechtigte Delegierte.

Die Latte liegt hoch: Bei seinem ersten Antreten im Jahr 2017 bekam Sebastian Kurz 98,7 Prozent. Die Partei steht geeint hinter ihm. Die Debatte im Nachhang zur Ibiza-Affäre ist verstummt. In der Flüchtlingsfrage zum aktuellen Thema Afghanistan leistete ihm die Partei zu weiten Teilen Gefolgschaft.

Kurz überspringt die Latte: Es werden 99,4 Prozent, 533 Stimmen für ihn drei gegen ihn. Kurz nimmt die Wahl an und ist "nach all dem, was wir erlebt haben, unendlich dankbar für den Rückhalt und die Unterstützung".

Die 99,4 Prozent sind das beste Ergebnis, das ein VP-Obmann jemals erhalten hat. Den Bestwert hielt bisher Kurz' direkter Vorgänger Reinhold Mitterlehner, der 2014 von 99,1 Prozent der Delegierten zum Parteichef gewählt wurde.

Zu Beginn wird die Gemeinsamkeit im schwierigen Corona-Jahr beschworen, eine leicht kitschig anmutende Version einer gemeinsam mit Kindern und "normalen Menschen" gesungenen Bundeshymne präsentiert.

Moderator Peter L. Eppinger freut sich darüber, dass wieder alle zusammenkommen können. Abstände gibt es keine, aber die 3-G-Regel für alle. Der Start wird als Celebrity-Event zelebriert - mit Begeisterung über die Präsenz (fast) jedes einzelnen Würdenträgers und Funktionärs. Auch Sebastian Kurz' Eltern, Elisabeth und Josef, und seine schwangere Lebensgefährtin Susanne Thier sind da.

Danach begrüßt Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner die Delegierten und Gäste. Sie spricht gleich zu Beginn aus, worum es heute geht: "Wenn wir stark für unseren Kanzler entscheiden, tun wir das, was die Menschen von uns wollen. Unser Kanzler ist nur so stark, wie unser Rückhalt für ihn."

Kleiner Scherz in Richtung der Mitbewerber, "die vielleicht auch online zusehen": "Wir sind beschlussfähig, und wir werden es auch bi zum Schluss bleiben." Bekanntlich konnten beim Parteitag der SPÖ im Juni aufgrund mangelnder Präsenz keine Beschlüsse mehr gefasst werden...

Eine leichte Übung: Die ÖVP stimmt über alle Anträge gleich am Anfang ab. Auf Präsentation und Diskussion wird verzichtet.

Erst später kommt der Kanzler zu Wort: Chef der Partei, der heute wiedergewählt werden soll. Ein "zacher Bursch", so Tirols Landeshauptmann Platter. "Ich meine, es hat in den letzten Jahrzehnten nie ein Bundeskanzler so schwer gehabt wie Du. Und ich finde, Du hast das perfekt gemeistert." Die Opposition habe ein einziges Ziel: "Kurz muss weg." Dagegen gebe es nur ein Mittel: "Zusammenhalten und konsequent für die Bürger im Land zu arbeiten."

"Alle gegen die ÖVP"

Bevor er spricht, wird das Feld aufbereitet: Zitate des politischen Gegners (vor allem jene, die sich auf die Ibiza-Affäre bezogen), gewürzt mit Empörung von Parteigängern über den schlechten Ton, die üble Stimmung, das "Schlechtmachen" des Kanzlers, gefolgt von Appellen, über die Parteigrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, um die Krise zu bewältigen. "Wir lassen uns den Sebastian nicht herausschießen" sagt der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer in einer Einspielung.

Klubobmann August Wöginger illustriert das "Alles gegen die ÖVP". Der Umgangston sei rauer geworden, ein neuer Tiefpunkt erreicht. "Nur noch persönliche Untergriffe, nur noch ständiges Anpatzen, Diffamieren, Unterstellungen - wir wollen das nicht." Es schade auch der Politik insgesamt, die Menschen wendeten sich ab.

Die Krise sei gut überstanden, der Arbeitsmarkt erhole sich, auch dank der "in Europa einzigartigen Wirtschaftshilfen". Jetzt gehe es um Pflegereform und "Klimaschutz mit Hausverstand", so das neue Wording. Wöginger kommt auch die Rolle zu, den "Mitbewerbern" Botschaften auszurichten: Bei der zerstrittenen SPÖ "wissen wir gar nicht, wen wir anrufen sollen", mit FPÖ-Chef Herbert Kickl, der Schulter an Schulter mit Rechtsextremen demonstriere und mit Bitterstoffen gegen Corona vorgehen wolle, "ist kein Staat zu machen" und die Neos seien gar nicht spürbar, weder in Wien noch in Salzburg, wo sie in der Regierung sitzen.

Der Kanzler spricht

Einmal noch wird das Miteinander per Videoeinspielung beschworen, dann ist "ER" am Wort. Auch er freut "sich wirklich, Euch alle zu sehen", mitten im Sommer, und nicht nur in Form einer Videokonferenz. Scherzchen an Generalsekretär Axel Melchior in Bezug auf den Veranstaltungsort: "Du hast es geschafft, in Niederösterreich eine rote Stadt auszumachen!" Und in Richtung Wöginger: "Der Gust war eineinhalb Jahre in keinem Bierzelt, ist aber trotzdem nicht aus der Übung."

Die Impfung ist sein erstes und dringlichstes Thema: Mit dem Auf und Zu muss Schluss sein, die Impfung ist jetzt die Antwort, nicht der Lockdown." Den Menschen die Angst vor der Impfung zu nehmen, das sei die wichtigste Aufgabe der ÖVP für die nächsten Monate. "Denn jeder einzelne, den wir überzeugen, ist geschützt und leistet einen Beitrag für uns alle."

Dann kommt Kurz auf die vergangenen Wochen und Monate zu sprechen, insbesondere auf jene Anzeige, die zur Einleitung eines
Strafverfahrens geführt hat. "Das hat auch bei mir alles bisher Erlebte in den Schatten gestellt. Ich habe das bisher noch nicht so offen ausgesprochen: Aber es gab da durchaus einige Tage, wo ich mich gefragt habe, ob ich da wirklich richtig bin; ob es das ist, was man im eigenen Leben möchte; wie lange man sowas aushält; und ob es in Ordnung ist, so etwas der eigenen Familie zuzumuten."

Kraft hätten ihm die vielen ermutigenden Telefonate und SMS gegeben: "Mich haben diese Erfahrungen noch belastbarer  gemacht, mich haben sie noch entschlossener gemacht, mit mir könnt Ihr rechnen!"

Inhaltlich legt Kurz folgende Schwerpunkte:

  • Die Entlastung: "Wir werden die Steuern für kleine und mittlere Einkommen weiter senken und den Familienbonus nochmal erhöhen." Damit den arbeitenden Menschen im Land mehr zum Leben bleibe.
  • Die Arbeit: "Wir werden klar einfordern, dass wer arbeiten kann auch arbeiten geht." Das entspreche dem Menschenbild der ÖVP, und das werde man auch einfordern.
  • Die Ökologisierung: "Das ist kein Nämlich nicht ein „Entweder-oder“, kein Widerspruch zwischen Klimaschutz, Wirtschaftsstandort oder
    sozialer Verträglichkeit, sondern dass das Bemühen darum, "einen starken Standort und  soziale Sicherheit mit dem respektvollen Umgang mit der Schöpfung in Einklang zu bringen". Was es brauche, seien Fortschritt und Innovation und nicht Rückschritt und Verbote.
  • Die Digitalisierung: "Wir müssen die öffentliche digitale Infrastruktur, vor allem die Breitbandinfrastruktur, schnellstmöglich flächendeckend ausbauen. Wofür wir nun 1,4 Milliarden Euro in die Hand nehmen." Verwaltung, Forschung und Schulen stünden im Fokus.
  • Die Migration: "Die unbeschränkte Aufnahme von Menschen aus Krisenregionen funktioniert nicht. Die Fehler aus 2015 dürfen sich nicht wiederholen." Aber den Menschen auf der Welt, die in furchtbaren Bedingungen leben, müsse geholfen werden. Die Mittel des Auslandskatastrophenfonds  seien mit ihm mehr verzehnfacht worden. "Das sind Mittel, mit denen wir in unterschiedlichen Teilen der Welt Not zumindest etwas lindern können." Die ÖVP müsse der Verantwortung für das Land gerecht werden. "Das heißt für uns: Nicht mehr Menschen aufzunehmen, als wir integrieren können." Es heiße aber auch, "dass bestimmte Grundwerte, wie die  Gleichstellung von Mann und Frau, Religionsfreiheit und Respekt vor unserem Lebensmodell nicht verhandelbar sind".

Er gebe zu, Bundeskanzler sein, sei nicht immer einfach, schloss Kurz, gerade auch, wenn es darum gehe, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen, wie zuletzt das ständige Abwägen zwischen Grundrechten und Gesundheitsschutz. "Und bei jeder einzelnen Entscheidung immer die Gewissheit zu haben, dass man es niemals allen recht machen kann."

Am Schluss noch ein Appell: "Aber mit Eurer Unterstützung ist alles möglich." Das Wahlergebnis wird um 16 Uhr verkündet.

Wahl der Stellvertreter

Neben Kurz stehen auch seine Stellvertreter zur Wiederwahl. Einzig Noch-Casinos-Chefin Bettina Glatz Kremser steht auch für diese Funktion nicht mehr zur Verfügung, alle anderen bleiben im Amt.

Thematisch wird die ÖVP beim Parteitag auf steuerliche Entlastungen, den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Corona-Krise, Digitalisierung und einen strikten Migrationskurs setzen.

Vor dem Sommer hatte Kurz die zweite schwere Krise seiner Kanzlerschaft durchlebt (die erste war die Abwahl durch den Nationalrat im Mai 2019, nachdem er die Koalition mit der FPÖ aufgekündigt hatte): Die Erkenntnis, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ihn als Beschuldigten wegen Falschaussage im Untersuchungsausschuss führt, kam gleichzeitig mit Umfrageeinbrüchen nach Corona-Maßnahmen – die Partei, deren professionelle Kommunikation lange gefeiert worden war, kam merklich außer Tritt und verstieg sich in einen öffentlichen Kleinkrieg mit der Justiz.

Ganz "nach Plan" hat sich die Aufregung in der ÖVP wieder gelegt. Am Tag nach seinem Geburtstag setzt der Kanzler zu einem neuen Höhenflug an. Kleine Anmerkung: Seit gestern ist er mit seinen 35 Jahren auch als Bundespräsident wählbar...

Korrektur: In einer früheren Version des Artikels war die Rede von 600 stimmberechtigten Delegierten - anwesend von den 614 möglichen Delegierten waren aber nur 540.