Und wieder ist sie da, die Frage: Sanktionen oder nicht? Am Tag nach dem umstrittenen Urteil gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny wiegt man in den Staatskanzleien sorgenvoll den Kopf. Der Umgang mit dem Nachbarn in Osten gestaltet sich seit langer Zeit schwierig, die Liste der Problemfelder ist lang. Nach dem Giftanschlag gegen Nawalny im August jetzt also Gefängnis. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kritisierte das Urteil als „fernab jeder Rechtsstaatlichkeit“. Nawalny müsse „sofort freigelassen werden“. Die Verurteilung sei „inakzeptabel“, schrieb Bundeskanzler Sebastian Kurz. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sprach von einer Verletzung der internationalen Verpflichtungen Russlands, Tschechiens Außenminister Tomas Petricek von einem „Schauprozess“. Auch Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda rief die EU und die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf. „Der stalinistische Ansatz „kein Mensch, kein Problem“ wird in Russland immer noch angewendet“, schrieb er auf Twitter.

Am Dienstag hatte ein Moskauer Gericht Nawalny zu dreieinhalb Jahren Straflagerhaft verurteilt, weil er aus Sicht der Richterin mehrfach gegen Bewährungsauflagen verstoßen habe. Bei Protesten gegen den Umgang mit Nawalny wurden in Russland in den letzten zwei Wochen rund 9000 Menschen festgenommen.

Seit Dezember verfügt die EU über einen eigenen Sanktionsrahmen bei Menschenrechtsverletzungen. Das Europaparlament und einige Mitgliedstaaten fordern, dieses Instrument nun erstmals wegen der Festnahme des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny und seiner Anhänger gegen Russland einzusetzen. Doch Sanktionen sind umstritten. Der Vorsitzende des deutsch-russischen Forums, Matthias Platzeck etwa meint, die Sanktionen der letzten Jahre hätten zwar das Verhältnis verschlechtert, aber wenig gebracht. „Wo wir mit Russland vorankommen, ist dann, wenn wir auf Augenhöhe Gesprächskontakte halten“, sagte der SPD-Politiker weiter.

In der Ukraine oder bei der russischen Opposition sieht man das anders. Die russische Offensive im Donbass etwa sei vor allem dank der Sanktionen eingedämmt worden. Es sei notwendig, dem Kreml klar zu signalisieren, was geht und was nicht.

Unterwegs nach Moskau

Heute fliegt EU-Außenbeauftragter Josep Borrell nach Moskau, um sich mit Außenminister Sergej Lawrow zu treffen. Die Botschaft, die er mitbringt, ist glasklar: „Ich rufe zur unverzüglichen Freilassung Nawalnys auf“, schrieb er auf Twitter. Unklar ist noch, ob sich Borrell auch mit Nawalny-Anhängern trifft, was unter anderem die Grünen im EU-Parlament verlangt hatten. Er erinnert daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Verfahren als willkürlich und unangemessen qualifiziert hat.

Doch beim EU-Außenministerrat zu Beginn dieser Woche, noch vor dem Urteil, gab man sich abwartend. Mit einiger Verzögerung wurde gestern eine Erklärung der EU-Länder veröffentlicht, in der es hieß, das Urteil sei „inakzeptabel, da es politisch motiviert ist“. Die EU-Staaten wiederholten ihre Forderung nach einer „sofortigen und unbedingten Freilassung“ Nawalnys, drohten aber nicht ausdrücklich mit Sanktionen; einige Länder hatten sich an der ursprünglichen Version gestoßen, in der von „restriktiven Maßnahmen“ die Rede gewesen war. Manche wären von wirtschaftlichen Maßnahmen selbst betroffen, darauf macht auch „Eurochambres“-Präsident Christoph Leitl, der auch Co-Vorsitzender des österreichisch-russischen „Sotschi-Dialogs“ ist, aufmerksam. Man müsse die Möglichkeiten von Diplomatie und Politik nutzen, die Wirtschaft dürfe nicht als Instrument missbraucht werden.

Selbst die Pandemie spielt eine Rolle. Ungarn hat bereits mit einer Eigenzulassung den Einsatz des russischen Impfstoffs Sputnik V ermöglicht, die EU zeigt sich angesichts ausgefallener Lieferungen inzwischen nicht abgeneigt, den dafür nötigen Zulassungsprozess bei der EMA einzuleiten – gleichzeitig will man aber unter allen Umständen das Bild vermeiden, beim Impfen auf Russland „angewiesen“ zu sein.