Sie sind Gastgeber des EU-Gipfels ins Salzburg. Wird das wieder ein Gipfel der schönen Bilder, der Absichtserklärungen, der Überschriften, wo man bei der Umsetzung auf halbem Weg stecken bleibt?

SEBASTIAN KURZ: Es ist ein informeller Gipfel, den es einmal im Halbjahr in der EU gibt. Es gibt keine Beschlüsse bei solchen Treffen. Dafür gibt es mehr Raum für Diskussion über schwierige Themen wie Migration und Brexit.

Es gibt keine Beschlüsse, Sie hoffen schon auf Fortschritte?

KURZ: Mein Ziel ist es, dass es uns in diesem Halbjahr gelingt, in der Umsetzung dessen, was im Juni beschlossen wurde, voranzukommen. Im Juni hat eine Trendwende in den Köpfen der Regierungschefs stattgefunden, vor allem beim Außengrenzschutz.

Voraussetzung, dass der Grenzschutz funktioniert, ist die Realisierung der sogenannten Anlandeplattformen. Sie fordern seit Jahren, dass Flüchtlinge, die aus dem Meer gefischt werden, zurück nach Afrika gebracht werden. Nun musste auch Innenminister Kickl die Erfahrung machen, dass bisher kein afrikanisches Land zu solchen Zentren bereit ist. Ist das eine Idee, die an der Realität zerschellt?

KURZ: Ägypten nimmt bereits Boote zurück, die sich von Ägypten aus auf den Weg nach Europa machen. Das führt dazu, dass sich niemand mehr von Ägypten aus auf den Weg nach Europa macht. Solche Vereinbarungen brauchen wir mit anderen afrikanischen Ländern. Die Richtung stimmt, die Lösung der Migrationsfrage kann nur gelingen, wenn sich so wenige Leute wie möglich auf den Weg nach Europa machen.

Sie sitzen seit bald 100 Tagen in Europas Chefsessel. Haben Sie von einem afrikanischen Land eine Zusage, das bereit wäre, solche Zentren zu errichten?

KURZ: Es ist vor allem eine Frage der Gegenleistung. Es gibt den Deal mit der Türkei, der dazu beiträgt, dass die Westbalkanroute geschlossen ist. Wenn der Wille in der EU da ist, wird es möglich sein, solche Kooperationen abzuschließen.

Die EU muss also bereit sein, Milliarden lockerzumachen?

KURZ: Das ist in den meisten Fällen eine breitere Kooperation, es geht auch um wirtschaftliche Aspekte oder um Sicherheitsfragen. Und es geht ums Geld.

Dass die Grenzschutztruppe Frontex auf 10.000 Personen ausgeweitet wird, dürfte wenig Widerstände hervorrufen. Was wollen Sie da in Salzburg erreichen?

KURZ: Ich bin für die Aufstockung auf 10.000 Mann bis 2020. Das geht einher mit einer Ausweitung des Mandats von Frontex. Da gibt es leider immer noch einige Staaten, die auf der Bremse stehen. Mir ist es gelungen, den spanischen Premier zu überzeugen, er war einer der schärfsten Kritiker der Ausweitung.

Auch Italiens rechtspopulistischer Innenminister Salvini ist sehr kritisch, weil er um Eingriffe in seine nationale Souveränität beim Schutz der Grenze fürchtet.

KURZ: Wir dürfen die Länder an der Außengrenze nicht alleinlassen. Die Länder müssen allerdings auch bereit sein, europäische Hilfe anzunehmen. Wir brauchen da ein robusteres Mandat, damit Frontex gegen Schlepper vorgeht.

Beim Brexit sind die Fronten festgefahren. Ist es denkbar, dass die Verhandlungen unter österreichischem Vorsitz scheitern? Oder ist die Aufregung nicht vielmehr der übliche Theaterdonner?

KURZ: Wir müssen alles tun, um einen harten Brexit, also einen Brexit ohne Abkommen über einen geordneten Austritt mit Übergangsphase, zwischen Großbritannien und der Europäischen Union zu vermeiden. Ich hoffe, dass wir in dem Halbjahr einen Deal zustande bringen.

Sitzen die Europäer nicht am längeren Ast?

KURZ: Es wäre falsch, Großbritannien bestrafen zu wollen oder sich als EU-27 überlegen zu fühlen. Ein harter Brexit würde Großbritannien massiv schwächen, aber er würde auch Schäden in der EU auslösen. Es wäre eine Lose-lose-Situation.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Einigung in diesem Halbjahr gelingt?

KURZ: Es muss gelingen, alles andere wäre eine Katastrophe für Großbritannien und ein massiver Schaden in der EU. Großbritannien ist für Österreich einer der wichtigsten Handelspartner, und daran hängen viele Jobs. Als Kanzler kann ich kein Interesse haben, dass es in Zukunft schwieriger wird, Handel mit den Briten zu treiben. Das würde nur Jobs kosten.

Das EU-Parlament hat in einer denkwürdigen Abstimmung den Rat aufgefordert, sich die Situation in Ungarn genauer anzusehen. Wird Ungarn ein Thema in Salzburg sein?

KURZ: Nein.

Der Ball liegt beim Allgemeinen Rat, wo Europaminister Blümel den Vorsitz hat. Wird Österreich das Thema behandeln. Oder wird man die heiße Kartoffel der nächsten Präsidentschaft überlassen?

KURZ: Das liegt nicht allein an der Präsidentschaft. Das liegt vor allem an der rechtlichen Beurteilung der Kommission und der Mitgliedsstaaten.

Es war doch überraschend, dass Sie sich für das Verfahren ausgesprochen haben ...

KURZ: Ich habe in allen Fragen eine klare Haltung. Ich habe die Osteuropäer verteidigt, wenn sie in der Migrationsfrage zu Unrecht kritisiert worden sind. Genauso klar bin ich in Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Hier darf es keine Kompromisse gegeben.

Warum haben Sie den Schritt gesetzt? Um sich von der FPÖ abzugrenzen?

KURZ: Die Entscheidung des EU-Parlaments ist weder eine Verurteilung Ungarns noch ein Beweis für rechtsstaatliche Mängel. Es ist nur der Start eines Dialogprozesses zwischen Ungarn und der Kommission zu den offenen Fragen. Ich hoffe, dass sich die Fragen rasch klären lassen. Sollte es Fehlentwicklungen geben, braucht es eine Korrektur seitens der Ungarn.

Ich muss Sie korrigieren, der Ball liegt nicht bei der Kommission, sondern bei den EU-Staaten. Wie wird sich die Regierung positionieren? Für Orbán, wie es die FPÖ will, oder gegen Orbán?

KURZ: Jetzt muss einmal die Kommission mit Ungarn reden. Es gibt Vorwürfe und Anschuldigungen, die erhoben worden sind. Das muss man sich anschauen. Es gibt weder einen Beweis noch eine Verurteilung. Ich bin nicht der Richter.

Noch zwei aktuelle innenpolitische Fragen. Auch bei der Ehe für alle gibt es einen Konflikt mit der FPÖ, die die klassische Ehe privilegieren will. Wie wollen Sie den Konflikt auflösen?

KURZ: Es gibt weder einen Konflikt noch Meinungsverschiedenheiten. Es gibt eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, diesen Beschluss gilt es zu respektieren. Wir werden in der Koalition beraten, wie wir mit der Entscheidung umgehen.

Die FPÖ will weiterhin die Ehe privilegieren. Das muss Sie doch als ÖVP-Chef schmerzen?

KURZ: Ich kann nur wiederholen, dass wir uns in der Koalition beraten werden, wie wir mit der Entscheidung umgehen. Den Beschluss des Gerichtshofs gilt es zu respektieren. Wir werden eine Lösung finden.

Ich hoffe, Sie sind bei den Kassen gesprächiger. Die Zusammenlegung wird vielfach begrüßt, es stellt sich aber doch die Frage, ob das Einsparungspotenzial von einer Milliarde realistisch ist.

KURZ: Bereits in den Sechzigerjahren hat die WHO empfohlen, Österreich sollte seine Kassen zusammenlegen. Viele Regierungen haben das in ihr Regierungsprogramm aufgenommen, keine hat es umgesetzt. Wir tun das, und natürlich gibt es Widerstände von Funktionären, die Angst haben, an Macht und Einfluss zu verlieren.

Namhafte Experten bezweifeln die Berechnungen und sagen, man spare Millionen, aber nicht eine Milliarde.

KURZ: Unsere Experten sind in ihren Berechnungen zum Schluss gekommen, dass es eine Milliarde Euro ist. Diese Summe werden wir wieder in das Gesundheitssystem investieren, im Kampf gegen die Zweiklassenmedizin, gegen zu lange Wartezeiten und für eine bessere Gesundheitsversorgung.

Sind die Berechnungen nicht in Wirklichkeit Voodoo?

KURZ: Ich kann nur wiederholen: Es gibt nicht wenige Funktionäre, die an Macht und Einfluss verlieren. Dass diese mit allen Mitteln gegen die Zusammenlegung argumentieren, liegt auf der Hand. Jeder Euro, der eingespart wird, wird zum Wohle der Österreicher in die Gesundheitsversorgung investiert. Man wird doch hoffentlich nicht bestreiten, dass es eine Reform in die richtige Richtung ist. Ich bin froh, dass wir den Mut haben, umzusetzen, was jahrzehntelang gewollt war, aber nie getan wurde.