Die Coronakrise fräst sich derzeit in alle Gesellschaftsbereiche, die damit einhergehenden Veränderungen sind immens. In Kooperation mit dem Verein „DENKwerk Steiermark“ werfen zahlreiche Experten aus unterschiedlichsten Bereichen einen persönlichen Blick auf die Zukunft nach Corona. Der Wirtschaftshistoriker Thomas Krautzer über das Auseinanderdriften Europas im Gefolge von Covid-19.

Greta Thunberg Klimaschutz Inc. warf den Delegierten der UNO Vollversammlung starken Tobak an den Kopf: „Ihr zerstört unsere Träume …“. Auch die Generation der Baby-Boomer macht sich mittlerweile Gedanken über zerstörte Träume. Sie sind im Kalten Krieg aufgewachsen, haben an der Ostgrenze noch in Maschinengewehrläufe geblickt und können das Wunder der Öffnung der Welt in den 1990er Jahren noch als Wunder begreifen. Sie glaubten an Freiheit und Demokratie als Leuchttürme für die Welt und der Westen war mehr als nur eine geografische Himmelsrichtung. Dieser vielleicht etwas naive Glaube an eine bessere Welt (auch das konnte Globalisierung sein) hatte bereits drei heftige Schläge wegzustecken: 9/11 und der folgende „war on terror“, die weltumspannende Finanzkrise ab 2008 und die Flüchtlingskrise 2015. Nach jedem Ereignis bröckelte ein Stück ab und das Heil wurde Schritt für Schritt in Abschottung gesucht.

Und dann kam Covid-19 … Eine solche Krise entfaltet ihre Wirkung weniger aus sich selbst heraus. Ihre Funktion ist es, entweder Brandbeschleuniger oder Katalysator zu sein. Dinge, die bereits latent oder offen vorhanden sind, bekommen plötzlich eine neue, teils ungeahnte Dynamik. Man kann sich nur die Augen reiben, was innerhalb von Wochen selbstverständlich wurde, was noch vor kurzem als undenkbar galt. Das EU-Heiligtum Binnenmarkt, derzeit Makulatur. Völliger Einbruch des internationalen Flugverkehrs, kein Problem. Nationale Alleingänge bei einem per Definition globalen Problem, erste Wahl der Krisenstrategen. Nur bei der Vergemeinschaftung enormer Schuldenlasten hat relativ rasch das internationale Prinzip wieder Platz gegriffen, deponiert als nationale Forderung, versteht sich!

Blicken wir doch stellvertretend auf das kleine Österreich. Das Land, das eine enorm hohe Exportrate aufweist und dessen wirtschaftliches Rückgrat, die Industrie, zum überwiegenden Teil ihre Geschäfte im Ausland macht, ist weder auf der europäischen noch auf der internationalen Ebene als Mahner für differenzierte Maßnahmen oder Grundsätze der Offenheit aufgefallen. Vielmehr wurde hier rasch nach abflauender Infektionskurve eine neue Wirtschaftstheorie entwickelt: der sogenannte „Tourismus-Merkantilismus“. Alle (vor allem „die Deutschen“, © Köstinger) sollen nun nach Österreich kommen und hier Urlaub machen, nur die Österreicher bitte, sollen den Urlaub zu Hause vorziehen. Derzeit kommen in ganz Europa alle auf die gleiche Idee. Dass das irgendwie nicht funktionieren kann, jeder bei sich und doch bei den anderen, hat sich noch nicht herumgesprochen. Ähnliches funktioniert derzeit bei der öffentlichen Diskussion um Waren und Nahrungsmittel. Man habe doch jetzt endlich den Beweis, nur vor der Haustüre liege das Glück. Dass wir uns mit solch einem Ansatz als ausgeprägte Exportnation regelrecht ins eigene Knie schießen, fällt derzeit auch niemandem auf. Vielleicht sind die SARS-CoV-2 Symptome doch noch nicht umfassend beschrieben.

Die größte Enttäuschung hat in den letzten Wochen eindeutig die EU geboten. Die Leyen- Kommission (sollte man vielleicht mit „ai“ schreiben?) hat zwar einen engen Spielraum, den hat sie dafür auch keinen Zentimeter genutzt. Es war atemberaubend mitanzusehen, wie das ehrwürdige und mühsam aufgebaute Gebilde europäischer Eintracht und seine dem gemeinsamen Ganzen gewidmete Institutionen von den nationalen Regierungen kaltgestellt und weggewischt wurden. Ja, es war eine hektische und panische Zeit, aber all jenen, die mit der EU einen Traum verbinden, ist der kalte Angstschweiß ob dieser Offenbarung praktischer Impotenz heruntergeronnen. Wer führt das vereinte Europa, wenn es ganz, ganz ernst ist? Die Antwort wurde erbarmungslos gegeben und das zu einem Zeitpunkt, in dem die Welt in die sich abzeichnende Auseinandersetzung der Supermächte USA und China taumelt, in die sich mit Sicherheit Russland einklinken wird.

Daran kann die EU zerbrechen ...

Wenn jetzt jene rasch und entschlossen handeln, die eine aufrechte Vision haben von Völkergemeinschaften, die in Frieden, Demokratie und Offenheit miteinander Wohlstand schaffen, ist vielleicht noch Hoffnung. Was benötigen wir dazu?

Die Klarheit, dass, wer Grenzen schließt und das Heil in nationalem Egoismus sucht, Krisenspiralen nach oben und Wohlstand und Lebensqualität für die Menschen nach unten treibt. Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 wurde erst zum Monster, als die brutalen nationalen Alleingänge begannen.

Europa muss sofort den Corona-Krisenmodus abschütteln und zum gemeinsamen Handeln finden. Beginnend mit akkordierten Regeln für die Wiederöffnung der Grenzen bis hin zur Klärung der bittersten Frage: nämlich wie der wirtschaftliche Schaden aufgefangen wird. Hier dürfen die schwer verschuldeten Länder nicht als penetrante Forderer auftreten und jene, die sich – das darf nicht vergessen werden – ihre stabile Position über Jahre aufgebaut haben, dürfen nicht als hartherzige Besserwisser erscheinen. An dieser Frage kann die EU zerbrechen (ein Ende der Währungsunion hätte das andere logisch zur Folge).

Dann werden andere die Teile aufsammeln . . .

Die EU muss sich als starker internationaler Verteidiger einer offenen Weltgemeinschaft etablieren. Mit einem funktionierenden Binnenmarkt hätte man das stärkste Argument überhaupt. Das Eintreten für Offenheit gegenüber Dritten bedingt aber auch zwei gerne vergessene Voraussetzungen: a) die Herausbildung eines starken gemeinsamen Außenauftritts (man fragt sich immer noch wie weiland Henry Kissinger, welche Telefonnummer man wählen soll, wenn man die Meinung der EU hören möchte) und b) eine klare Formulierung strategischer wirtschaftlicher Interessen. Dazu gehört die Hand auf zentrale europäische Verkehrs-Infrastruktur, ein Ausbau einer europäischen Dateninfrastruktur und die Formulierung von strategischen Produktionen und Zulieferketten, die man keinesfalls aus der Hand geben möchte. Nur dann kann man als ernst zu nehmender Partner auf Augenhöhe über eine offene Welt verhandeln. Andernfalls werden wir zerrieben und zu Bittstellern.

Wenn schon den derzeit agierenden Regierungen keine Vision einfällt, dann sollte es zumindest ein alter Wahlspruch römischer Machtpolitik sein: „Divide et Impera!“. Wenn wir hier auf unserem Kontinent im Gefolge Covid-19 dermaßen auseinanderdriften, wie es in den letzten Monaten vorexerziert wurde, dann werden andere die Teile aufsammeln und uns ihre Vorstellung einer neuen Welt diktieren. Und wir werden jammern: „Ihr habt uns unsere Träume zerstört!“.

Thomas Krautzer, geboren am 17. Dezember 1965 in Klagenfurt. Studium, Promotion und Universitätsassistenz im Fachbereich Wirtschaftsgeschichte, ab 1992 Industriellenvereinigung Steiermark, davon ab dem Jahr 2000 16 Jahre als Geschäftsführer. Ab 2017 Professur für wirtschaftliche Standortfragen, seit 2018 Leiter des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der KF Uni Graz.