Auf den Tag genau zwei Jahre ist es her, dass Vizekanzler Heinz-Christian Strache nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos seinen Rücktritt verkündete. Die "b’soffene G’schicht" sprengte wenig später die türkis-blaue Regierung. Eine Neuwahl mit Wechsel zu Türkis-Grün, eine Corona-Pandemie, ein paar Herzlerl-Chats und Ermittlungen gegen Kanzler und Finanzminister später will in der heimischen Innenpolitik auch zwei Jahre nach Ibiza keine Ruhe einkehren. Schon gar nicht im Nationalrat, wo sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und die Opposition gestern einen besonders erbitterten Schlagabtausch geliefert haben. Mehr dazu lesen Sie hier.

Leben wir derzeit in einer innenpolitischen Dauerkrise? Jein, sagt Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik. "Es ist natürlich selten, dass eine Regierungspartei derart damit beschäftigt ist, sich gegen Vorwürfe mutmaßlicher Straffälligkeit zu wehren - bei einer gleichzeitigen globalen Pandemie." Dennoch kann er der Kritik, dass die Regierung dank Selbstbeschäftigung sachpolitisch nichts weiterbringt, nicht recht geben. "Man kann nie eindeutig bewerten, wie produktiv eine Regierung ist. Wenn es danach geht, wie viele Gesetze verabschiedet werden, wäre die Aktuelle eine der produktivsten überhaupt. Angesichts der Fülle an umfassenden Corona-Gesetzen."

Zahlreiche Gesetze trotz Krisen

Aber auch abseits der Pandemie-Bekämpfung hat Türkis-Grün bisher einiges auf den Weg gebracht. Neben Maßnahmen gegen Hass im Netz, einer Steuerform, sowie Gesetzen zu Informationsfreiheit und zum Ausbau von erneuerbarer Energie, wurde auch ein Anti-Terror-Paket nach dem Anschlag in Wien auf den Weg gebracht. "Und man kann auch in Sachen Pandemiebekämpfung einiges vorweisen, das im internationalen Vergleich besser als anderen gelungen ist", erklärt Ennser-Jedenastik. "Die Opposition kann aber auch mit Recht Dinge aufzeigen, die deutlich schlechter gelungen sind."

Besagte Opposition zeigt aktuell vor allem auf, was in der ÖVP nicht gelingt. Die jüngsten Skandale stellen aber auch die Wähler der Partei vor eine Herausforderung, erklärt der Politikwissenschaftler. "Entweder  beeinflussen solche Skandale die eigene Wahlentscheidung, indem man sich von der Partei abwendet. Oder sie verändern die eigene Sicht, sodass man die Vorgänge gar nicht mehr als so unmoralisch einschätzt." Letzteres passiere deutlich öfter. "Der Mensch versucht, Dissonanzen im eigenen Denken zu vermeiden." Dass die jüngsten ÖVP-Skandale auch staatliche Institutionen beschäftigen, "die in den Augen der Bevölkerung eine moralische Integrität haben", könnte das aber ändern.

"So können wir nicht weitermachen"

Eines haben die jüngsten politischen Krisen - von Postenschacher-Vorwürfen bis Pandemie - aber gemeinsam, sagt Ennser-Jedenastik. "Es zeigt sich ein Elitenversagen. Diese Krisen offenbaren uns, dass unser Staatsapparat schlechter funktioniert, als wir uns das wünschen würden." Die heimische Verwaltung sei "extrem politisiert", da Führungspositionen oft nach politischer Nähe statt Qualifikation vergeben werden. Das begünstige Skandale wie Postenschacher und Korruption. "Eine solche Besetzungspolitik funktioniert vielleicht in Normalzeiten, aber in der Krise tut es das nicht." Eine komplette Neuaufstellung des öffentlichen Sektors sei eine Lehre, die man aus all diesen Krisen ziehen müsse, so Ennser-Jedenastik. "So können wir nicht weitermachen."