In der EU ist der Euphorie über die Entwicklung von Impfstoffen inzwischen einer lautstarken Auseinandersetzung über ausbleibende Liefermengen, mangelhafte Verträge und vermurkste nationalen Impfpläne gewichen. Wächst der Druck in den Mitgliedsländern, wächst auch der Druck auf Brüssel – und die vergangene Woche hat gezeigt, dass die Belastungsgrenze offensichtlich erreicht ist.

Besonders die Kommission und ihre Chefin, Ursula von der Leyen, kommen aus Rechtfertigungsversuchen nicht mehr heraus. Dabei sind es nicht die Verträge, die mit einem halben Dutzend Pharmafirmen im vergangenen Jahr geschlossen wurden; diese Papiere mögen ihre Schwachstellen aufweisen, müssen aber eingedenk der gegebenen Umstände betrachtet werden. „Erfolgsländer“ wie die USA und Großbritannien standen in der Pandemie weit schlechter da als die EU und waren gezwungen, jeden Strohhalm zu ergreifen. Das hieß hohe Kosten und Haftungsübernahme durch die Notfallzulassung.

In der EU geht so etwas nicht, die Mitgliedsländer müssen einen Konsens erzielen und gerade die ärmeren waren es, die wegen der Finanzierung auf die Bremse stiegen. Verhandlungen sind deshalb auch zeitlich umfangreicher, weil die Positionen der Mitgliedsländer eingeholt werden müssen. Deshalb kauft die EU günstig, aber spät – und muss sich jetzt mit bockigen Lieferanten wie AstraZeneca herumschlagen, die ihre eigene Interpretation der Lieferbedingungen haben.

Das Problem ist nicht, wie es dazu kam. Das Problem ist, wie man damit umgeht.

Letzte Woche also passierten zunächst kleinere Fehler. Einmal ging die Veröffentlichung des AZ-Vertrages schief, weil durch einen technischen Fehler auch geschwärzte Stellen sichtbar wurden, das nächste Mal verstieg sich der Chefsprecher der EU-Kommission zur Bemerkung „Nur der Papst macht keine Fehler“, was ihm mediale Schelte einbrachte. Ursula von der Leyen kam im ZDF-„heute“-Interview ins Schwimmen und sagte, man sei „beim Impfen ganz gut vorangekommen“.

Einsame Entscheidung am Freitag

Doch das alles ist nichts gegen den Beinahe-SuperGAU, zu dem es am späten Freitagabend kam. Schon davor stand eine fragwürdige Entscheidung: weil der Verdacht besteht, dass der britisch-schwedische Konzern AstraZeneca Impfdosen, die in der EU produziert wurden und eigentlich hier hätten bleiben sollen, nach Großbritannien geschleust hatte, erließ die Kommission eine neue Ausfuhrkontrolle für Pharmazeutika. Die WHO und andere, selbst der frühere Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, warnten davor, dass damit der Impfnationalismus zunehmen und ein falsches Signal gesendet würde.

So ein Kontrollsystem hat aber seit dem Brexit auch noch eine Schwachstelle, nämlich die irisch-nordirische Grenze. Und plötzlich, ohne Information der Betroffenen, war Artikel 16 des Austrittsvertrages im Spiel, die Notfallklausel. Kommt sie zum Einsatz, würde das eine harte Grenze auf der irischen Insel bedeuten, vier Jahre Verhandlungen zunichte und Irland zum Pulverfass machen. Sofort liefen die Telefone zwischen London, Dublin und Brüssel heiß, kurz vor Mitternacht wurde der Plan zurückgezogen. Angeblich musste selbst Brexit-Chefverhandler Michel Barnier bei seiner eigenen Behörde intervenieren. Der Flurschaden war angerichtet.

Alleingang

Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen? Aus Diplomatenkreisen ist zu hören, es sei ein Alleingang der Präsidentin gewesen und das Kommissarskollegium habe erst Minuten vor der Veröffentlichung davon erfahren. Verwunderlich: In der näheren Umgebung der Präsidentin arbeiten mehrere hochrangige Beamte, die in der Vergangenheit eng mit dem Brexit zu tun hatten und an sich wissen müssten, dass hier mit dem Feuer gespielt wird.

Verantwortlich für das Regulativ sei, so eine offizielle Version, Handelskommissar Valdis Dombrovskis, der daraufhin sein Heil in Worthülsen wie „übergeordnete Überlegungen zur öffentlichen Gesundheit“ suchte. Sofort sprangen die Gegner des Nordirland-Protokolls auf und verlangen nun eine Neuverhandlung: sie sehen die EU unter dem Verdacht, das Protokoll „als Waffe“ einzusetzen.

Dabei ist Nordirland ohnehin bereits wieder im Krisenmodus. Die EU-Kommission zog am Dienstag ihre Kontrollore an den Häfen der zum Vereinigten Königreich gehörenden Provinz aus Sicherheitsbedenken vorübergehend ab. "Wir werden die Situation weiter beobachten und entsprechend handeln", erklärte die Brüsseler Behörde. Die Sicherheit der EU-Kontrollore in Nordirland habe höchste Priorität. Auch die nordirischen Kontrollen an den beiden Häfen in Belfast und Larne waren am Montagabend ausgesetzt worden, weil die lokalen Behörden wegen Sicherheitsbedenken ihre Mitarbeiter abgezogen hatten. Die Polizei kündigte verschärfte Kontrollen an.

Der britische Staatsminister Michael Gove will sich heute mit EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic treffen und auch Gespräche mit der nordirischen Regierungsspitze führen. Ursula von der Leyen folgte gestern der Aufforderung der großen Fraktionen im EU-Parlament, Rede und Antwort zu stehen. Allerdings nicht im Plenum, sondern in den nicht-öffentlichen Fraktionssitzungen.