Nach 14 Stunden Verhandlungsmarathon am Freitag hätte es am Samstag beim Sondergipfel in Brüssel eigentlich etwas entspannter weitergehen sollen. Doch das von Bundeskanzler Sebastian Kurz in der Ständigen Vertretung angesetzte Pressegespräch vor Beginn des zweiten Gipfeltages verzögerte sich und verzögerte sich und verzögerte sich – und den wartenden Journalisten war klar, dass offensichtlich tatsächlich Dynamik in die Gespräche gekommen war.

Der Vortag hatte enttäuschend geendet, zu weit waren die EU-27 mit ihren unterschiedlichen Zugängen zum 1800-Milliarden-Megadeal noch auseinander gewesen. Doch wie schon angekündigt brachte Ratspräsident Charles Michel einen neuen, adaptierten Vorschlag ein und mit einem Mal kamen die Dinge in Bewegung. Kurz sollte später am Tag sagen: „Es läuft ganz gut, die Dinge bewegen sich in die richtige Richtung.“ Michel hatte Österreich einen noch höheren jährlichen Rabatt in Aussicht gestellt, 287 statt 237 Millionen Euro; der Kanzler hätte gerne immer noch etwas mehr. Gegen Abend hieß es dann, auch ein weiterer Wunsch der „sparsamen Vier“ hat im neuen Plan seinen Niederschlag gefunden. Wie berichtet, sollte das 750 Milliarden schwere Wiederaufbauprogramm ursprünglich zu einem Drittel als Kredite, zu zwei Dritteln in Form von Zuschüssen vergeben werden. Nun hat sich das Verhältnis geändert, es sollen 450 Milliarden als Zuschüsse laufen und somit 300 Milliarden als Kredite. Auch in diesem Punkt meinte Kurz am Nachmittag noch, das Volumen der Zuschüsse müsse weiter reduziert werden.

Für wilde Diskussionen sorgten aber einmal mehr die Niederländer, die als Einzige aus der frugalen Vierergruppe nicht mit zusätzlichen Rabatten beteilt wurden, aber ein strenges Vetorecht bei der Vergabe der Mittel fordern. Ministerpräsident Mark Rutte möchte die Erfüllung „sehr strikter Bedingungen“ beim Geldausgeben. Viele Länder fühlen sich dadurch aber brüskiert, ihnen geht das zu weit, zumal laut Rutte schon ein einzelner Staat die „Super-Notbremse“ auslösen könnte; Charles Michel schlug nun vor, bei Bedenken den Rat zu informieren und dann ein anderes Gremium, etwa den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister, einzuschalten. Unmut ruft das alles auch beim EU-Parlament hervor, das nicht übergangen werden möchte. Hauptgegner der Niederländer ist Italien, das die Forderung Ruttes als „inakzeptabel“ betrachtet.

Streit um Rechtsstaatlichkeit

Ein weiterer Spaltpilz ist die Rechtsstaatlichkeit, die schon mit dem mehrjährigen Finanzrahmen verknüpft werden sollte und nun auch zwingend an die Vergabe der Recovery-Mittel gebunden werden soll. Länder wie Polen oder Ungarn, die jetzt schon Probleme mit den EU-Behörden haben und auch vom Parlament unter Druck gesetzt werden, wollen davon nichts wissen. Eine Verletzung dieser Kriterien soll von den EU-Staaten mit qualifizierter Mehrheit festgestellt werden können, was der Idee nach einer Umkehrung eines Vorschlags der Kommission entspricht. Das Infoportal „Politico“ berichtete am Abend von einem Gegenentwurf des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, wonach für einen solchen Beschluss Einstimmigkeit erforderlich sein solle.

Den ganzen Nachmittag über bis in die Abendstunden hinein führte Charles Michel seine Einzel- und Gruppenkonsultationen weiter, die Dramaturgie des Gipfels geriet darüber arg ins Wanken. Zwischendurch führte er auch Gespräche mit der aktuellen Ratspräsidentin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die alle für das Milliardenpaket kämpfen.

Annäherungen gab es bei den Allokationskriterien, also den Bemessungsgrundlagen für die Höhe der zugestandenen Mittel. Die Kommission hatte die Arbeitslosenzahlen aus dem Jahr 2015 als Basis genommen, nun könnten für einen Teil aktuelle Zahlen gelten, für den Rest dann die in den nächsten Jahren real messbaren Wirtschaftseinbrüche.

Bis spät in die Nacht hinein blieb auf dem Sondergipfel die Hoffnung aufrecht, dass es doch noch zu einer Einigung kommt und kein weiterer Gipfel nötig ist. Ein Dämpfer kam dann aber noch von Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte, der direkt die „sparsamen Vier“ angriff und ihnen vorwarf, kein Interesse an einer schnellen Lösung zu finden: „Wir befinden uns in einem Patt.“

Pommesstand und Dachterrasse

Auch wenn das Gipfel-Thema ein sehr ernstes ist, muss doch Zeit sein für etwas Kurzweil. Das begann schon am Freitag, als alle auf Angela Merkel und António Costa anstießen: die deutsche Kanzlerin und der portugiesische Regierungschef hatten Geburtstag, dazu kam noch allgemeine Begeisterung über die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, die am Mittwoch erst geheiratet hat.

Der Gipfel offenbarte auch eines der Geheimnisse des Ratsgebäudes: Es hat offensichtlich auch eine schicke Dachterrasse. Schaut aus wie beim noblen Heurigen und scheint bestens geeignet als Gesprächsort – hier hielt Ratspräsident Charles Michel Hof und empfing der Reihe nach Staats- und Regierungschefs.

Gemütlich wie beim Nobelheurigen: Verhandlungsrunde auf der Dachterrasse
Gemütlich wie beim Nobelheurigen: Verhandlungsrunde auf der Dachterrasse © AFP

Die derart entstandenen Gipfelpausen nutzte so mancher, um ein wenig auszubrechen. Die belgische Premierministerin Sophie Wilmès konnte als „Hausherrin“ gar nicht anders und entführte eine ganze Partie Staatenlenker zum belgischen Nationalheiligtum, einer „Frittenbude“ vulgo Pommesstandl. Den schönen Tag und die Pommes genossen Xavier Bettel (Luxemburg), Robert Abela (Malta) und Jüri Ratas (Estland).

Auf ein paar Pommes draußen: Xavier Bettel (Luxemburg), Robert Abela (Malta) und Jüri Ratas (Estland) mit Gastgeberin Sophie Wilmès
Auf ein paar Pommes draußen: Xavier Bettel (Luxemburg), Robert Abela (Malta) und Jüri Ratas (Estland) mit Gastgeberin Sophie Wilmès © Twitter/Wilmes