Der britische Premierminister Boris Johnsonwill noch am Freitag verkünden, ob weitere Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU aus Sicht der britischen Regierung Sinn ergeben. Das könnte die Vorentscheidung für einen harten Brexit am Ende des Jahres sein - das Horrorszenario für die Wirtschaft. In einem Interview mit Sky News sagte Großbritanniens Außenminister Dominic Raab, er sei enttäuscht von der EU.

"Uns wurde gesagt, dass es das Vereinigte Königreich in den nächsten Tagen sein muss, das alle Kompromisse macht", sagte Raab. Das könne es in Verhandlungen nicht sein. Trotzdem hält Raab eine Einigung noch für möglich. Es gebe eigentlich nur zwei strittige Punkte, ansonsten seien sich beide Seiten nahe, sagte er der BBC. "Ein Deal sollte also möglich sein, das setzt aber guten Willen auf beiden Seiten voraus."

Frist läuft heute aus

Johnson hatte zuletzt eine Frist bis zum 15. Oktober für eine Einigung gesetzt. Umstritten sind unter anderem noch, wie viele Fische EU-Länder in britischen Gewässern fangen dürfen. Außerdem will Brüssel unbedingt gleiche Wettbewerbsbedingungen für britische und europäische Firmen durchsetzen.

Die EU und Großbritannien verhandeln momentan über die künftigen Beziehungen zueinander. Das Vereinigte Königreich ist nach dem EU-Austritt bis zum Jahresende in einer Übergangszeit, in der EU-Regeln noch angewendet werden. Sollten die Gespräche keinen Kompromiss bringen, käme es doch noch zum harten Brexit.

Drängen aus der EU

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte Kompromisse an. "Jeder hat seine roten Linien", sagte sie am Donnerstagabend nach dem ersten Tag des EU-Gipfels in Brüssel. "Wir haben Großbritannien gebeten, im Sinne eines Abkommens weiter kompromissbereit zu sein. Das schließt ein, dass auch wir Kompromisse machen müssen." Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder erklärten sich bereit, noch einige Wochen über ein Handelsabkommen verhandeln zu wollen. Sie beschlossen aber auch, sich verstärkt auf ein No-Deal-Szenario vorzubereiten. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte, er glaube nicht, dass Johnson am Freitag die Verhandlungen abbrechen werde.

Alarmierende Studie

Britische Firmen würden einer Studie des Münchner Ifo-Instituts zufolge besonders stark unter einem harten Brexit leiden. Der Grund sei, dass sie viele Zwischenprodukte aus der EU importierten, die von wenigen Zulieferern bezogen werden. "Die aktuelle Covid-19-Krise hat gezeigt, wie wichtig die Diversifizierung von Lieferketten ist, um die negativen Auswirkungen unerwarteter Lieferschocks abzuschwächen", so Ifo-Außenwirtschaftsexpertin Lisandra Flach. Die Studie belege die Dringlichkeit eines Handelsabkommens, das die Unsicherheit und damit auch die Kosten für die Beteiligten verringere. Ein Blick auf Deutschlands Handelsbeziehungen zeige, dass auch die hiesige Wirtschaft vom Brexit stark betroffen wäre.

Der Kieler Wirtschaftsforscher Gabriel Felbermayr sagte dagegen, es sei davon auszugehen, dass unter einem harten Brexit nur ausgewählte Branchen wie die Autoindustrie leiden würden, deren Produkte mit Einfuhrzöllen belegt würden. Bei vielen anderen Gütern werde Johnson dagegen wohl auf Zölle verzichten und keine neuen Handelsbarrieren aufbauen. "Wie schlimm der Brexit wird, hängt maßgeblich davon ab, wie London ihn interpretiert", so Felbermayr.

In einer Studie der US-Investmentbank Goldman Sachs hieß es, das wahrscheinlichste Szenario sei noch etwas Brexit-Drama im Oktober. Anfang November sollte es dann eine Einigung auf ein Grundgerüst für ein Handelsabkommen geben.