Für einen kurzen Moment gab es dann doch einen Dissens. „Auch der Norden hat Supermöglichkeiten, sich zu vergnügen“, korrigierte Kanzlerin Angela Merkel nach den jüngsten Beratungen mit den Länderchefs über eine Lockerung der Corona-Beschränkungen den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Der hatte auf der Pressekonferenz mit Merkel die Bundesbürger für diesen Sommer zum Urlaub in Bayern ermuntert, lenkte aber umgehend ein. „Dann ist geklärt, wohin man fährt: nach Norden oder nach Süden. Der Westen ist auch dabei.“ Später legte Söder im ZDF noch nach: „Wer Österreich genießen will, kann das auch in Bayern tun.“ Ferien daheim also.

Nur langsam lockert Deutschland die Beschränkungen. Spielplätze, Gotteshäuser, Museen öffnen wieder. Mehr nicht. Über weitere Schritte wird Mitte Mai beraten, machte Merkel nach den jüngsten Beratungen klar. Diese Krise ist anders. Auch für die Kanzlerin. Das Reizwort „alternativlos“ ist aus dem Vokabular gestrichen. Jetzt heißt es „unverzichtbar“. So hatte Merkel Mitte März in einer TV-Ansprache den Lockdown begründet. In ihrer Rede überzeugte sie mit Empathie und Zuversicht. Merkel regiert nicht mehr nur nach mechanischen Gesetzen, sie steuert um. Auch im politischen Stil. Nachdem sie in der Diskussion über Lockerungen für „Öffnungsdiskussionsorgien“ gewarnt hatte, meldete auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble leise Zweifel am Kurs der Kanzlerin an. Merkel reagierte. „Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung“, sagte die Kanzerlin im Bundestag. Sie spürt eine neue Lust an der Debatte.

Seit 2005 regiert sie das Land und ist gefühlt immer im Krisenmodus. Erst kippen 2008 Immobilienkredite und die Banken, dann nach 2010 Griechenland und der Euro. „The indispensable European“ – die unverzichtbare Europäerin – titelt der „Economist“. Doch beschreibt das nur Merkels Leistung nach außen. Schwarze Null und Exportchampion – nach innen hielt Merkel alle Unbill stets fern von den Menschen im Wirtschaftswunderland. Die Krise war stets woanders. Nur eben nicht in Deutschland.

Migrationswelle änderte alles

Erst die Flüchtlingspolitik 2015 änderte das. Deutschland machte Bekanntschaft mit der Welt. „Wir schaffen das“, beharrte die Kanzlerin trotzig und erntete Unmut. Angela Merkel reagierte. Sie zog sich 2018 erst vom CDU-Vorsitz zurück, dann verkündete sie für 2021 das Ende ihrer Kanzlerschaft. Nun beschert die Corona-Krise ihr eine späte Bewährungschance. Debatten über Reproduktionsraten sind wie gemacht für die promovierte Physikerin. Merkel erklärt, wo andere Verunsicherung streuen. Das schafft Vertrauen. Und die Kanzlerin schickt sich als Corona-Verdachtsfall selbst in Quarantäne. Das zeugt von Größe. Auf 64 Prozent Zustimmung kletterte ihre Popularität in Umfragen. Schon mutmaßten Medien voreilig über ein Verbleiben im Amt über die Wahl 2021 hinaus.

Nicht alle freut das. Nordrhein-Westfalens Regierungschef Armin Laschet strebt nach dem CDU-Vorsitz. Aber mit dem Lockdown ruht der Wahlkampf für das Amt. Der verunsicherte Laschet drängelte und strauchelte. Er sah in einer Studie der Uni Bonn über Infektionsraten im Corona-Hotspot Heinsberg willkommene Argumente für sein Ziel einer raschen Lockerung. Doch erst wurde diese Erhebung von Merkels Chef-Virologen Christian Drosten zerpflückt. Dann kam heraus, dass die Untersuchung von der PR-Firma des früheren Bild-Chefs Kai Diekmann auf fragwürdige Weise begleitet wurde. Das klang nicht gut – weder für die Seriosität der Studie noch für das Image Laschets. Umso auffälliger ist das laute Lob von CDU-Mitbewerber Friedrich Merz für Merkel. Sie und ihr einstiger Widersacher telefonierten oft, streute ein Boulevardblatt. Andere spekulieren über Markus Söder als Kanzlerkandidat der Union. In der Krise finden sich neue Allianzen.

Doch beginnt es zu brodeln. Zehn Millionen Kurzarbeiter zählt das Land. Viele fragen sich: Springt die Wirtschaft wieder an? Deutschlands Autoindustrie kämpft mit der Elektromobilität. Auch bei der Digitalisierung klemmt es im Land. So wachsen die Zweifel am Ausmaß der Beschränkungen. Ein dumpfes Grundrauschen wabert im Land. Das treibt auch Armin Laschet. Er ahnt: Der nächste Kanzler zahlt notfalls für Merkels Krise.

Keine Sicherheit außer Wandel

Die Kanzlerin ist schon weiter. Sie kennt sich aus mit wankenden Gewissheiten. Merkel ist in der DDR geboren, ein Land, das einfach von der Weltkarte verschwand. Wer zu spät kommt, den bestraft der Kollaps. Es gibt keine Sicherheit außer den Wandel, lautet die Lektion der Kanzlerin. Auch deshalb treibt Merkel stetig an. Über all die Debatten um Öffnung und Orgien kehrte die Kanzlerin still und leise zurück zu ihrer alten

Mission: Reformen. So mahnte sie auf dem Petersberger Klimadialog, der Klimaschutz müsse beim Wiederaufbau nach Corona eine zentrale Rolle spielen. Fast gleichlautend äußerte sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Beide arbeiten eng zusammen. Deutschland übernimmt im Juli den Ratsvorsitz der EU. Alle lange vorbereiteten Pläne dafür derzeit über den Haufen geworfen und im Höchsttempo modifiziert. „Wir sind nur dann erfolgreich, wenn wir gemeinsam handeln“, mahnte Merkel und sagte der EU zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt zu. Sie stellte aber auch klar, es gehe nicht darum, „einfach so weiterzumachen“. Klima, neue Mobilität und Digitalisierung lautet ihr Reha-Programm für die Zeit nach Corona.

Merkel zieht ein ins politische Finale. Aber es herrscht kein Zweifel: Die Frau hat noch etwas vor. Es geht auch um ihr Vermächtnis.