Am Tag danach erreichen die Schockwellen sogar Afrika. Die Kanzlerin schaltete sich von einer Reise nach Südafrika in die Debatte in der Heimat ein. „Unverzeihlich“ nannte Angela Merkel (CDU) die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein Politiker mit den Stimmen einer rechtsextremen Partei in ein hohes Staatsamt gewählt worden. Das Votum müsse „rückgängig“ gemacht werden, forderte Merkel aus der Ferne. Und so kam es. Die thüringische Landes-CDU hat sich allerdings in stundenlangen Krisenberatungen nicht auf die Zustimmung zu raschen Neuwahlen einigen können. Bundeschefin Annegret Kramp-Karrenbauer verwies bei Verlassen der Sitzung in der Nacht auf Freitag auf Initiativen der Parteien im thüringischen Landtag, "Stabilität im derzeitigen Parlament herzustellen". 

Am Donnerstag machte die FDP den Weg zu Neuwahlen in Thüringen frei. „Demokratie braucht demokratische Mehrheiten“, stellte Kemmerich überraschend fest. Er geht als Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die deutsche Geschichte ein. Doch geht es längst nicht mehr um Landespolitik. FDP-Chef Christian Lindner wackelt, auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ist beschädigt. Die SPD stellt indirekt die Große Koalition infrage. Die Berliner Republik sortiert sich neu – ein Blick auf die Konfliktlinien.

Die FDP: Massenhaft gab es Parteiaustritte und Kritik an Kemmerich, vor allem aber an Lindner. Es liege nicht an der FDP, wer für sie stimme, hatte Lindner am Mittwoch gesagt. Einen Tag später erklärte der FDP-Chef in Erfurt: „Eine Abhängigkeit von der AfD darf es für eine demokratische Partei nicht geben.“ Eine späte Einsicht. Lindner musste gar Berichte dementieren, wonach er im Präsidium der Liberalen eine Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD erörtert habe. „Besser nicht regieren als schlecht“ – mit diesen Worten hatte er 2017 ein Bündnis mit Union und Grünen im Bund abgelehnt. Es war der Anfang seines Abstiegs. Seit Monaten versucht er die FDP als eine Art bürgerliche Gelbwesten-Partei weiter rechts zu positionieren, er wettert gegen Tempolimit und höhere Spritpreise durch eine Klimasteuer. Lindner hofft auf Enttäuschte aus der AfD. Längst ist der liberale Sonnyboy nicht mehr unumstritten. Kemmerich geht nun, aber der Schaden bleibt. Auch für Lindner. Am Freitag stellt er im Parteivorstand die Vertrauensfrage.

Die CDU: Auch für Annegret Kramp-Karrenbauer steht viel auf dem Spiel. Sie soll versucht haben, Lindner von einer Kandidatur Kemmerichs abzubringen. Hat nicht geklappt. Auch die Thüringer CDU votierte mit der AfD. So ist auch Kramp-Karrenbauers Autorität ramponiert. „Die CDU erleidet damit ein hohes Maß an Glaubwürdigkeitsverlust“, erklärte Markus Söder, CSU-Chef und Ministerpräsident Bayerns. Söder steht im März vor Kommunalwahlen, ein wichtiger Stimmungstest im Land. Doch auch für ihn steht viel auf dem Spiel: Eine schwache Annegret Kramp-Karrenbauer erhöht die Chancen für einen Kanzlerkandidaten Söder bei der nächsten Wahl im Bund. Spätestens 2021 geht Angela Merkel. Dann steht auch ihre Öffnung zur liberalen Mitte zur Disposition. Daher speist sich die Sehnsucht nach Friedrich Merz. Andere wie der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen würden die Partei gerne noch weiter rechts verankern. Offen werben Maaßen und die konservative Werteunion für Bündnisse mit der AfD – nicht nur in Thüringen. Die Mehrheit der Partei lehnt dies ab. Aber der rechte Rand der CDU zerfasert.

Die AfD: Von „bürgerlichen Mehrheiten“ sprach der AfD-Fraktionsführer im Bundestag, Alexander Gauland, und schloss seine Partei mit ein. Björn Höcke, der starke Mann in Thüringens AfD, darf laut Gerichtsbeschluss „Faschist“ genannt werden. Seine Nachwuchsgruppe nennt sich „Höcke-Jugend“. Das Mahnmal zur Ermordung der Juden Europas nennt Höcke Denkmal „der Schande“. Der Tag von Erfurt kennt fast nur Verlierer. Nur die AfD ist zufrieden.

Die SPD: Von „tektonischen Verschiebungen“ sprach SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Und nannte die CDU „keinen verlässlichen Partner“. Auch die Große Koalition im Bund wackelt. Schon Samstag tagt der Koalitionsausschuss. Die SPD muss Neuwahlen fürchten, aber Thüringen belebt ein altes Narrativ: die Sozialdemokraten als traditioneller Kämpfer gegen rechts. Das ist aufrecht. Wird im Fall von Neuwahlen aber nicht reichen.