Dass die Klimakrise die zentrale Herausforderung unserer Zeit darstellt, leugnet mittlerweile kaum jemand mehr. Auf allen Ebenen hat ein Umdenken stattgefunden. Doch eine grüne Modernisierung der Wirtschaft, wie sie etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrem „European Green Deal“ vorantrieb, wird nicht genügen, sagt der in Wien tätige deutsche Politologe Ulrich Brand. In seinem neuen Buch sieht er den „Kapitalismus am Limit“ und urgiert einen Systemwandel.

„Konflikten nicht aus dem Weg gehen“

Die strukturellen Gründe und Folgen der Krise seien deutlich weniger erforscht als ihre naturwissenschaftliche Seite, meint der 1967 am Bodensee geborene Wissenschaftler, der seit 2007 an der Universität Wien arbeitet, im Gespräch mit der APA. 2017 hat er mit seinem Berliner Kollegen Markus Wissen in einem Buch die „imperiale Lebensweise“ analysiert, nun versuchen die beiden, einen Schritt weiterzugehen. Ein grüner Anstrich dessen, was die Welt in der Ausbeutung der Ressourcen an den Rand der Katastrophe geführt hat, werde zu wenig sein, argumentieren sie in ihrem soeben erschienenen neuen Werk. „Es braucht Brüche, statt Kontinuitäten. Es braucht einen radikalen Reformismus, der auch Konflikten nicht aus dem Weg geht“, sagt Brand.

Bisher wird nur an kleinen Schrauben gedreht

Das Fatale daran: „Die Dekarbonisierung ist eine wirklich große Nummer. Bisher wurde aber trotz aller begrüßenswerten Initiativen nur an kleinen Schrauben gedreht. Strategien einer grünen Modernisierung sind wichtig, haben aber ihre strukturellen Grenzen. Je länger der Wandel hinausgezögert wird, desto dramatischer wird die Krise. Und umso größer wird der Aufwand, sie zu bekämpfen.“

Der an der Universität Wien tätige deutsche Politologe Ulrich Brand sieht in seinem neuen Buch den „Kapitalismus am Limit“ und urgiert einen Systemwandel
Der an der Universität Wien tätige deutsche Politologe Ulrich Brand sieht in seinem neuen Buch den „Kapitalismus am Limit“ und urgiert einen Systemwandel © APA / Wolfgang Huber-lang

„So eine Zukunft kann wirklich niemand wollen“

Um das zu illustrieren, erzählt Brand von einer kürzlichen Vortragsreise nach Mexiko City. „Die dortige Luftqualität können wir uns nicht vorstellen. Ich hatte die ganze Zeit Blut in den Atemwegen. So eine Zukunft kann wirklich niemand wollen.“ Nach Jahrzehnten des ungebremsten Neoliberalismus müsse nun reglementierend eingegriffen werden. „Es braucht einen Staat, der stark interveniert und investiert“ – und ein Narrativ, das nicht auf Verbote und Verzicht setze, sondern faire Regeln und die Bewahrung von Lebensqualität propagiere. „Wir müssen viel deutlicher sagen, was wir gewinnen, wenn wir endlich handeln.“

Das fossile System sei noch immer überaus präsent, das habe man auch bei der Weltklimakonferenz COP28 Ende des Vorjahres in Dubai sehen können, sagt Brand. „Kapitalismus ist eine Machtfrage und dazu die ‚imperiale Lebensweise‘ für viele Menschen noch immer attraktiv. Der fossile Konsens gilt noch immer.“ Die gegenwärtige Situation biete widersprüchliche Gewinnchancen: Die klassische fossile Industrie könne weiterhin hohe Profite erzielen, während gleichzeitig auch die ökologische Transformation wirtschaftlich immer attraktiver werde.

„Wachstumsorientierung ist der Systemfehler“

Dabei würden die Dinge aber nicht zu Ende gedacht. So sei etwa die Produktion von E-Autos oder von Windrädern energie- und rohstoffintensiv, die Digitalisierung ein gigantischer Energiefresser. „So lange wir am Wachstum festhalten, werden wir das Problem nicht lösen. Die Wachstumsorientierung ist der Systemfehler.“ Es brauche neben der Zivilgesellschaft andere Orientierungen in Parteien und Öffentlichkeit, auch „progressive Eliten“, um die Erkenntnis durchzusetzen: „Es geht um die Nicht-Verfügbarkeit der Welt – sie kann nicht immer weiter ausgebeutet werden.“

Für den 56-Jährigen, der das Wissenschaftsnetz „Diskurs“ mitbegründet hat und bei den „Scientists For Future“ aktiv ist, steht fest: „Der ökologische Umbau muss politisch gestaltet werden. Er muss gerecht und erfahrbar sein.“ Darin sieht Brand auch ein Problem bei der bisherigen Kommunikation der dramatischen Zukunftsaussichten: „Die Klimawissenschaft argumentiert mit Fakten, und die sind nicht erfahrbar. Erfahrbar ist die Katastrophe.“ Gleichzeitig gebe es Veränderungsängste. „Es gibt einen größeren Wunsch nach Stabilität als nach Veränderung der Welt. In dieser Situation wäre es die Aufgabe der Politik, klare Regeln aufzustellen. Nur so hat man die Sklaverei und die Kinderarbeit abschaffen – und die Mariahilfer Straße verkehrsberuhigt gestalten können.“

Wie das alles wirklich bewerkstelligt werden kann, da halten sich Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem Buch zurück, sondern geben bloß Anregungen. „Wir haben keine fixe Theory of Change“, gibt der Politologe zu. „Ein Teil der Veränderung ist schon, zu sagen, wie es ist.“ Das ist freilich zur Genüge geschehen. Das Austrian Panel on Climate Change (APCC) hat im Vorjahr den umfangreichen Report „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ zusammengefasst – ohne nennenswerten Folgen. Angst vor Radikalität dürfe aber nicht zur Lähmung führen, warnt Brand. „Politische und gesellschaftliche Konflikte auszutragen, ist nicht Gewalt. Gewalt ist, sich die Freiheit zu nehmen, auf Kosten der anderen zu leben.“