Die Frage beschäftigt Forschende seit Jahrzehnten und spaltet seither die Wissenschaftsgemeinde: Führt das klimawandelbedingte Abschmelzen des polaren Eises und der Gletscher zu einer Abschwächung des Golfstroms im Atlantik und droht diese natürliche Umwälzpumpe, die Nordeuropa mit Wärme versorgt, schon bald zu versagen? Während der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten Sachstandsbericht im Jahr 2021 auf Basis vieler Studien noch feststellte, dass ein Kollaps der atlantischen Zirkulation in diesem Jahrhundert unwahrscheinlich sei, kommt eine neue Studie aus den Niederlanden nun zu gegenteiligen Schlüssen: Demnach ist der Golfstrom bereits auf dem Weg zum Kippen und könnte binnen weniger Jahrzehnte deutlich an Kraft verlieren.

Worum geht es? Der Golfstrom ist Teil eines gewaltigen natürlichen Zirkulationsmusters, das den gesamten Atlantik durchzieht und in der Fachsprache AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation) genannt wird. Verkürzt gesagt transportiert die Meeresströmung warme karibische Wassermassen nach Nordeuropa und sorgt dort für vergleichsweise mildes Winterklima und eisfreie Häfen. Die wachsende Menge an Süßwasser im Meer durch die Eisschmelze könnte diesen Motor ins Stottern oder gar zum Erliegen bringen. Das Forschungsteam um den Ozeanografen René van Westen von der Universität Utrecht hat nun nach monatelangen, aufwendigen Computersimulationen festgestellt, dass das schon bald geschehen könnte. Zeitpunkt kann dafür zwar keiner genannt werden, doch die Forscher gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass ein etwaiger Zusammenbruch des Golfstroms noch in diesem Jahrhundert erfolgt.

Vier Grad weniger in Österreich

Die Auswirkungen wären jedenfalls dramatisch. Während sich in südlichen Gefilden durch die nicht länger abtransportierte Wärme unter anderem die tropischen Niederschläge verschieben würden, was Dürren und Überschwemmungen zur Folge hätte, würde es in Europa mangels Meeresheizung signifikant kälter. „Eine Besonderheit der Studie ist, dass sie die Auswirkungen auch für einzelne europäische Regionen, unter anderem für Wien, darstellt“, sagt Marc Olefs, Leiter der Klimaforschung bei Geosphere Austria. „In Nordeuropa würden sich die Jahresmitteltemperaturen ohne Golfstrom drastisch um bis zu 15 Grad abkühlen, in Österreich um etwa vier Grad. Wobei diese Abkühlung im Winter mit fünf bis acht Grad deutlich stärker ausfallen würde als im Sommer.“

Marc Olefs, Chef-Klimaforscher bei Geosphere Austria
Marc Olefs, Chef-Klimaforscher bei Geosphere Austria © Geosphere

Eiseskälte also von November bis Februar, während die Sommerhitze nur geringfügig zurückgehen würde. Grund dafür ist laut Olefs der Umstand, dass die mitteleuropäischen Winter stärker von hereinströmenden Luftmassen geprägt sind als die warme Jahreszeit. „Das bedeutet, unser Klima würde deutlich kontinentaler werden als heute. Der Winter in Wien würde dann etwa dem aktuellen Temperaturklima von Galzig am Arlberg in 2100 Meter Seehöhe entsprechen“, sagt Olefs. Die sommerliche Hitzebelastung und die deshalb erforderliche Kühlung würden dagegen kaum zurückgehen.

Das Risiko steigt an

Ist die Entwicklung einmal ausgelöst, vollzieht sie sich laut der aktuellen Studie sehr rasch in einem Zeitraum von nur 75 Jahren. Ob es aber tatsächlich so weit kommt, ist für Olefs noch nicht ausgemacht. „Wir wissen nicht sicher, ab welchem Punkt genau diese Entwicklung ausgelöst wird. Aber wir wissen, dass es immer wahrscheinlicher wird, je mehr Treibhausgase wir ausstoßen.“