"Ja, das verletzt internationales Recht in einer sehr spezifischen und begrenzten Weise", sagte der für Nordirland zuständige Staatssekretär Brandon Lewis am Dienstag vor dem Parlament in London. Er bewertete damit die von der britischen Regierung erwogenen Änderungen der Bestimmungen zu Nordirland im Austrittsvertrag, der die Bedingungen für das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU am 31. Jänner 2020 festlegt.

Nach einem Bericht des "Telegraph" will Premierminister Boris Johnson  verkünden, dass das Brexit-Abkommen "widersprüchlich" sei und neu geschrieben werden müsse. Ein Regierungssprecher den Bericht zunächst nicht kommentieren. Bereits zuvor hatte die "Financial Times" geschrieben, dass London das schon gültige Austrittsabkommen teilweise infrage stellen würde.

Chefjurist wirft hin

Der Chefjurist der britischen Regierung gibt einer Zeitung zufolge seinen Posten im Streit über das Brexit-Abkommen auf. Jonathan Jones liege im Disput mit dem Büro von Premierminister Boris Johnson über angebliche Pläne, Teile des Abkommens mit Bezug zu Nordirland zu untergraben, berichtete die "Financial Times" am Dienstag unter Berufung auf Insider.

Demnach sei Jones "sehr unglücklich" über die Entscheidung, entsprechende Teile der Vereinbarung zu ändern. Eine Stellungnahme der Regierung lag zunächst nicht vor. Das britische Pfund gab nach der Veröffentlichung des Berichts zum Euro nach.

"Mehr Realismus" verlangt

Vor der neuen Verhandlungsrunde zwischen der EU und Großbritannien über die Beziehungen nach dem Brexit hat der britische Chefunterhändler David Frost den Ton verschärft und "mehr Realismus" von Brüssel gefordert. Wenn ein Abkommen bis Ende des Jahres stehen solle, müsse es in dieser Woche Fortschritte geben, betonte Frost vor den Gesprächen mit dem EU-Chefunterhändler Michel Barnier in London.

Frost forderte "mehr Realismus von der EU in Bezug auf unseren Status als unabhängiger Staat". Wenn Brüssel das "in der sehr begrenzten Zeit, die uns noch bleibt, nicht schafft, dann werden wir zu Bedingungen handeln, wie sie die EU mit Australien hat", drohte der Brite.

EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte zuvor betont, dass sich London an die Zusagen halten müsse. "Alles, was unterschrieben wurde, muss respektiert werden", sagte Barnier dem Radiosender France Inter am Montag.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) kritisierte am Dienstag das Ultimatum Londons. Ziel der EU-27 bleibe weiterhin ein möglichst enges Verhältnis mit Großbritannien, so die Europaministerin nach Gesprächen mit dem britischen Botschafter und EU-Vertretern im Bundeskanzleramt. In der finalen Phase der Verhandlungen sei, wie schon bisher, die Einheit der EU 27 entscheidend. "Wir stehen klar hinter Chefverhandler Michel Barnier und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die bereits große Fortschritte erzielen konnten."

Auch die deutsche Bundesregierung erklärte ihre volle Unterstützung für die EU-Kommission, um gegenüber Großbritannien auf der "vollständigen Umsetzung des Austrittsabkommens zu bestehen". Dieses sei "die von beiden Seiten unterzeichnete rechtliche Grundlage, die es einzuhalten gilt", hieß es aus dem Auswärtigen Amt in Berlin.

Zwei Kernvereinbarungen

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson will einem Bericht der "Financial Times" zufolge zwei Kernvereinbarungen mit der EU zu Nordirland mit einem neuen Gesetz aushebeln.

Zum einen geht es um Staatshilfen für Unternehmen in Nordirland, die gemäß dem Austrittsabkommen auch künftig unter EU-Regeln fallen würden. Laut der Zeitung will Johnson die Pflicht für die britische Regierung aufweichen, Brüssel über solche Hilfsgelder zu informieren.

Darüber hinaus geht es um Auflagen für nordirische Unternehmen beim Transport von Waren in das Vereinigte Königreich. Laut Abkommen müssen die Unternehmen die Warensendungen als Exporte deklarieren. Auch diese Pflicht will Johnson dem "FT"-Bericht zufolge nicht mehr vollständig einhalten.

Die Nordirland-Frage ist einer der Hauptstreitpunkte zwischen London und Brüssel, da die Grenze zwischen Irland und Nordirland durch den Brexit de facto zu einer Landgrenze zwischen der EU und Großbritannien wurde. Das Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der jahrzehntelange blutige Nordirland-Konflikt überwunden wurde, sieht allerdings eine offene Grenze vor.

Irland in großer Sorge

Irlands Premierminister Micheal Martin zeigte sich besorgt über die späten Änderungswünsche der Briten. "Das Austrittsabkommen ist ein internationaler Vertrag und wir erwarten von der britischen Regierung, dass sie das, was vereinbart wurde, umsetzt und sich daran hält", sagte er der Zeitung "Irish Examiner".

EU-Parlamentspräsident David Sassoli warnte die britische Regierung vor Änderungen am Brexit-Abkommen. "Jeder Versuch, das Abkommen zu ändern, würde ernsthafte Konsequenzen haben", sagte Sassoli am Dienstag. "Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind entscheidend", sagte Sassoli am Dienstag nach einem Gespräch mit EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier in Brüssel. Deshalb müsse London seine bisher eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Er sei "sehr besorgt".

Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten. Bis Ende des Jahres bleibt es aber während einer Übergangsphase noch im EU-Binnenmarkt und der Zollunion. In dieser Zeit wollen beide Seiten ihre künftigen Beziehungen aushandeln und insbesondere ein Handelsabkommen vereinbaren. Die Gespräche dazu kommen aber seit Monaten nicht voran.

Das Nordirland-Protokoll legt fest, dass die britische Provinz vom 1. Januar 2021 an in einer Zollunion mit Großbritannien bleibt. Nordirland wendet dann aber weiter Regeln des EU-Binnenmarktes an, um Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Irland zu vermeiden.